Klappern um Mitternacht
NÜRNBERG - Das Festival „Musica Franconia“ ehrte Hugo Distler zum 100. Geburtstag und brachte den Nürnbergern einen ehemaligen Export-Schlager näher: die Flöte.
Was hat dieser Wolfgang Riedelbauch in seinen diversen Funktionen zwischen gefühlten Ewigkeiten am Dehnberger Hof und bislang 21 Jahren Franken-Musik nicht schon alles an versunkenen Schätzen der staunenden Öffentlichkeit präsentiert. Aber sollte wirklich die aus keinem Ohr wegzudenkende Melodie „La Paloma“ eine bislang übersehene Perle der „Musica Franconia“ sein? Zum Start der Festtage im halbwegs historischen Nürnberger Rathaussaal (gleichzeitig Beginn der bis 14. September tief in die Provinz ausschwärmenden Reihe „Fränkischer Sommer“) gab es eine „Festliche Eröffnung“ – und da war als erstes von jener weißen Taube zu hören, die noch kein Fütterungsverbot kannte.
Wiederbelebt: „die beste Traversflöte der Welt“
Die Töne kamen aus einer stark nach Drehorgel klingenden „Flöten-Uhr“, womit das kauzige Jahrgangs-Motto präzise angeschlagen war: „Eine ganze Welt der Flötentöne“. Für Nürnberg galt das nicht durchweg heiß geliebte Blas-Instrument („Man drückt gern hierzuland/Die Flöte in des Kleinkinds Hand“) einst ein Exportschlager. Kultur als Wirtschaftsfaktor – das hatte immer elektrisierende Wirkung. Also wurde im Germanischen Nationalmuseum auch das Leben des Nürnberger Instrumentenmachers Jacob Denner aufgeblättert und bei der traditionell entspannten „musikalischen Wanderung“ durch die Altstadt an der Walpurgiskapelle der Burg dem Sound jener reichsstädtischen Feste gedacht, die im 14. Jahrhundert lange vor Ilse Werners zeitweiligem Wohnsitz in Nürnberg den gewissen Pfiff unters Volk brachten. Man muss nicht immer gleich an Loriot denken.
Mit Superlativen geht alles besser, also wurde „die beste Traversflöte der Welt“ (1991 auf dem Dachboden eines Abriss-Hauses in der Nähe von Nürnberg entdeckt) vom Spezialisten Konrad Hünteler nach 250 Jahren wiederbelebt.
Das Festkonzert am Abend vorher hatte sich überraschend als öffentliche Produktion einer Hörfunk–Sendung fürs ganz späte Kulturprogramm des BR entpuppt. Drei Studio-Sprecher teilten sich im gemäßigten „Frühaufdreher“-Stil die Anekdoten-Moderation, die der Musik auf die Sprünge helfen sollte. Das gelang dann doch eher durch die milde Reibung zwischen B-Five Blockflötenconsort (fünf junge Musiker) und die Duo-Performance von Flötistin Katharina Hilpert und Perkussion-Artist Günter Baby Sommer, der die immer etwas gediegen wirkenden Vorlagen auf Reizbarkeit abklopfte. Bei Hans-Jürg Meiers „Volta Bianca“ von 2007 wurde mit jeweils zwei Flöten im Mund gespielt, was für zeitgenössische Musik mehr Heiterkeit als Verständnis einbrachte. Werner Heiders „Glückssprung“ von 1997 war schon eher geeignet, die eigene Hörgewohnheit zu justieren.
Distlers Tochter schüttelte den fünf Sängern gerührt die Hand
Allerdings hatte sich die ganze Veranstaltung mit ihrem Hang zum Schulfunk in der Gefahr verheddert, frisch gewecktes Interesse gleich wieder einzuschläfern. Das Publikum, das sich geduldig alle Grußworte angehört hatte (u.a. vom Schirmherrn, Innenminister Joachim Herrmann) und sich vielleicht drüber wunderte, dass von den zahlreichen Bürgermeistern und Referenten der Stadt keiner Zeit gefunden hatte, drängte zum Spanferkel-Empfang.
Der Hinweis auf zwei Musiker war denn wohl die wichtigste Aufgabe für Riedelbauchs Drei-Tage-Festival 2008. Den 100. Geburtstag von Hugo Distler, den die Internationale Orgelwoche schlicht ignorierte, feierte das federleicht singende Leipziger Calmus-Ensemble im Sebalder Nachtkonzert angemessen nach, obwohl der Komponist von den „Leipziger Weggefährten“ (Titel des Konzerts) allenfalls Max Reger kennengelernt haben könnte – ein achtjähriger Gefährte. Überzeugender als die Schüttel-Dramatik seiner Mörike-Vertonungen wirkten Distlers geistlichen Gesänge, bis heute „modern“ im Sinne von „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Die anwesende Tochter von Hugo Distler schüttelte den fünf Sängern gerührt die Hand – und da konnten sie bei der Mitternachts-Zugabe entspannt die Mühle am rauschenden Bach klappern lassen. Am 5. März im Fürther Theater treten sie erneut auf – dort wird Distler die wundersame Begegnung mit Georg Kreisler und Michael Jary erleben.
Am Tag zuvor die Übergabe des ersten Bandes der Gesamtausgabe von Johann Pachelbels Vokalwerk im renommierten Bärenreiter-Verlag war die Belebung von Stadtgeschichte. Viele Jahre hat Riedelbauch als Ein-Mann-Initiative an diesem Projekt geschoben, unzählige Türklinken geputzt. Zehn weitere Bände folgen, doch schon im ersten, der an Stadt und Sponsoren überreicht wurde, ist akute Bedeutung für die Gegenwart zu finden. Heißt es doch in einem der Texte: „Maezenas lebet noch/Der Nährer unserer Musen“. Dieter Stoll
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