Interview

Kinder und Dialekte in Bayern: "Sprache ändert sich ständig"

Eine aktuelle Studie zeigt: Bei Vokalen gleicht sich die Aussprache von bayerischen Kindern immer mehr dem Standarddeutschen an. Ein Gespräch über Dialekt(e), "Stoana", "Kabe" - und die Queen.
von  Ruth Schormann
Eine Familie steht auf dem Truderinger Volksfest. In Bayern gibt es viele verschiedene Dialekte. Wer mehr Kontakt zu Nichtdialektsprachlern hat, auf dessen Sprache hat das Standarddeutsch einen größeren Einfluss, sagt Sprachwissenschaftler Jonathan Harrington.
Eine Familie steht auf dem Truderinger Volksfest. In Bayern gibt es viele verschiedene Dialekte. Wer mehr Kontakt zu Nichtdialektsprachlern hat, auf dessen Sprache hat das Standarddeutsch einen größeren Einfluss, sagt Sprachwissenschaftler Jonathan Harrington. © imago/Wolfgang Maria Weber

München - AZ-Interview mit Jonathan Harrington: Er ist Professor für Phonetik und Sprachverarbeitung an der LMU und Direktor des gleichnamigen Instituts.

AZ: Herr Harrington, Sie haben in einer Studie gemeinsam mit Postdoktorandin Katrin Wolfswinkler herausgefunden, dass Kinder in Altötting immer öfter "standarddeutsche Vokale" verwenden. Was heißt das genau?
JONATHAN HARRINGTON: Beim Dialekt der Grundschulkinder, die wir in jährlichen Abschnitten über vier Jahre hinweg an zwei Schulen in der Nähe von Altötting aufgenommen und analysiert haben, handelt es sich um das Westmittelbairische. Standarddeutsch ist die Aussprache, die unter anderem und exemplarisch auch von Sprecherinnen und Sprechern des öffentlichen Rundfunks verwendet wird.

Jonathan Harrington, Professor für Phonetik und Sprachverarbeitung
Jonathan Harrington, Professor für Phonetik und Sprachverarbeitung © ho

Der Einfluss des Standarddeutschen wird immer größer

Wie unterscheiden sich Vokale im Westmittelbairischen (WMB) und im Standarddeutsch (SD) sprachwissenschaftlich?
Westmittelbairische und standarddeutsche Vokale unterscheiden sich in ganz vielen Hinsichten. Im Westmittelbairischen heißt es: Bam, eahm, Faier, fliang, Fuaß, Gobi, Leffe, aber standarddeutsch wird Baum, ihm, Feuer, fliegen, Fuß, Gabel und Löffel daraus.

Und das verändert sich bei den Grundschulkindern?
Die Kinder in Altötting sprechen weiterhin eindeutig WMB, nicht SD. Aber an einigen ihrer Vokale kann man den zunehmenden Einfluss von SD deutlich erkennen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Erwachsene Dialektsprecher, die wir aus derselben Gegend ebenfalls untersucht haben, haben denselben Vokal in "bes" (bös) und "Besen". Im Gegensatz zu den Erwachsenen produzieren die Kinder einen Vokal, der zwischen WMB-"bes" und SD-"bös" liegt. Der Unterschied: die Lippen in "bes" sind gespreizt, in "bös" gerundet, und bei den Kindern sind für dieses Wort die Lippen etwas gerundet, aber nicht so stark wie bei SD-Sprechern.

Kinder und Erwachsene unterscheiden sich im Dialekt

Hier geht es um "E" und "Ö". Wie schaut es mit dem bairischen A aus?
Das bairische "A" kommt in Wörtern vor wie Glos, Hos, Lo'n, Nodel (SD: Glas, Hase, Laden, Nadel). Bei erwachsenen WMB-Dialektsprechern ist daher der Unterschied zwischen den ersten Vokalen von "Gobi" und "Kabe" ganz deutlich, während es sich bei Standarddeutsch um denselben Vokal (Gabel, Kabel) handelt.

Und die Kinder aus Ihrer Studie unterscheiden in ihrer Aussprache nicht mehr?
Die Kinder aus Altötting unterscheiden in ihrer Aussprache zwar auch "Gobi" von "Kabe", aber der Unterschied ist nicht so ausgeprägt wie bei den erwachsenen Dialektsprechern.

Woran liegt das?
Das liegt sehr wahrscheinlich am Einfluss des Standarddeutschen, in dem ein solcher Unterschied gar nicht vorkommt. Wir sind aber noch weit entfernt davon, dass das bairische "A" ausstirbt. Aber ja: Über Jahrzehnte scheint es allmählich in diese Richtung zu gehen.

Gibt es auch Teile des Dialekts, die unverändert geblieben sind?
Bei anderen Vokalen - insbesondere den sogenannten Diphthongen - ändert sich gar nichts. Die Kinder aus Altötting sagen "Stoa" (Stein) und "Fuaß" (Fuß), so wie die erwachsenen Dialektsprecher auch.

"Menschen imitieren ihre Sprache gegenseitig"

Woran liegt es Ihrer Einschätzung nach, dass die Kinder ihre Sprache immer mehr an das Standarddeutsche angleichen?
Erstens imitieren wir uns in der Sprache gegenseitig, und zwar unbewusst. Das haben viele Experimente in der Forschung in den letzten 20 Jahren gezeigt. Erwachsene, die sich regelmäßig treffen und miteinander reden, passen sich in ihrer Aussprache aneinander an. Diese Anpassung ist von Tag zu Tag so klein, dass sie nicht wahrnehmbar ist - aber über Monate ist sie messbar, und über Jahre hinweg auch wahrnehmbar. Bei Kindern ist die Neigung zur Imitation noch viel stärker als bei Erwachsenen.

Und zweitens?
Heutzutage kommen Dialektsprecher und ihre Kinder viel mehr mit standarddeutschen Sprechern in Kontakt als es vor 50, 60 Jahren der Fall war. Daher ist es, aufgrund des erstgenannten Faktors, unvermeidlich, dass Dialektsprecher - und insbesondere Kinder - auch einige standarddeutsche Eigenschaften imitieren werden.

Was sind im Allgemeinen Ursachen für den Wandel der Aussprache?
Sprachwandel ist im Allgemeinen davon abhängig, mit wem man redet, und wie oft. Sprachlaute beeinflussen sich gegenseitig. Zum Beispiel zeigen unsere Messgeräte, dass man den Mund in der ersten Silbe von "haarig" nicht so weit aufmacht wie in der ersten Silbe von "Haare" oder "Harras". Der Grund ist die kleinere Mundöffnung von "i", die das davor kommende "aa" in "haarig" beeinflusst. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte können aus solchen kleinen Einflüssen ganz neue Laute entstehen.

Sprache wird durch das Umfeld geprägt

Was heißt das - ein ganz neuer Laut entsteht?
Aus genau solchen subtilen Unterschieden ist der Umlaut in "mächtig" entstanden, vor 1000 Jahren war der Vokal derselbe wie in "Macht". Das "ä" ist in der Tat in vielen Hinsichten eine Mischung aus "a" und "i".

Wer beeinflusst die Sprache von Kindern besonders? Die Eltern, Lehrer oder Freunde?
Die Sprache wird von den Leuten beeinflusst, zu denen Kinder am meisten Kontakt haben. Die Aussprache eines Kindes wird deswegen vor dem dritten Lebensalter überwiegend von den Eltern und der engeren Familie, danach zunehmend von Freunden und von Klassenkameraden geprägt. Die Forschung heutzutage zeigt, dass ein Lehrer einen sehr viel geringeren Einfluss auf die Aussprache eines Kindes im Vergleich zu Klassenkameraden und Freunden hat.

Welche Rolle spielt der Wohnort?
In Großstädten wie München haben Dialektsprecher einen viel größeren Kontakt zu Nichtdialektsprechern als in ländlicheren Regionen. Insofern hat die Standardsprache in Städten wie München auf den Dialekt einen noch größeren Einfluss als auf dem Land.

Auch Erwachsene verändern ihre Sprache noch

Was können Eltern oder Großeltern denn tun, um ihre Kinder dahingehend zu fördern?
Nicht sehr viel - abgesehen davon, dass sie mit den Kindern zu Hause weiterhin Dialekt reden. Ansonsten müsste sich eine ganze Gemeinde von der Außenwelt komplett über mehrere Jahre abschotten
- was ja weder wünschenswert noch heutzutage möglich ist.

Aber dann gäbe es keinerlei Veränderung Richtung Standarddeutsch?
Das ist richtig, aber die bairischen Eigenschaften würden sich trotzdem ändern, denn wenn sich eine Gemeinde isoliert, dann fängt sie an, ihre eigene Aussprache zu entwickeln. Das belegt unsere Studie zur Dialektentwicklung bei stark isolierten Wissenschaftlern, die einen Winter in kleinen Gruppen in der Antarktis leben.

Gibt es in anderen Ländern ähnliche Entwicklungen?
Dialekte und Sprachen ändern sich ständig - und diese Änderungen werden durch Imitation aufgrund von Mobilität und Kontakt vorangetrieben. Man ist lange davon ausgegangen, dass die Aussprache Erwachsener recht stabil ist, aber auch sie ändert sich minimal. Sogar die Aussprache der Königin Elisabeth II., die ja die Vertreterin vom angeblich unveränderbaren "Queen's English" schlechthin ist, hat sich über die Jahrzehnte geändert. Zwei Kolleginnen und ich haben über 2.000 Vokale aus ihren Weihnachtsreden zwischen 1950 und 1990 akustisch analysiert.

"Die Aussprache der Queen war mal aristokratischer"

Was haben Sie entdeckt?
Ihre Aussprache war etwas aristokratischer in den 50er als in den 70er Jahren. Der Grund: Wegen zunehmender sozialer Mobilität zwischen 1950 und 1980 in England ist die Königin immer mehr mit Leuten aus einem sozialen Mittelstand in Kontakt gekommen - wodurch ihre aristokratischen Vokale über drei Jahrzehnte von Mittelstandssprechern leicht und allmählich gefärbt wurden.

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