Irgendwann dreht er halt durch

NÜRNBERG -Nürnbergs „Pornographie“- Regisseur über die Tafelhallen-Premiere von „Motortown“, wo ein Irak-Soldat ein Fiasko erlebt.
Als Regisseur in Chemnitz, wo er seit dieser Saison Schauspielchef ist, outet sich Enrico Lübbe gerade mit Tennessee Williams und Tschechow eher als Mann der Klassik. Bei gewissen zeitgenössischen Autoren räumt er denn auch einen „schwereren Zugang“ ein. Der angesagte Brite Simon Stephens zählt nicht dazu: „Herausragende Qualität“ attestiert er ihm. Im vergangenen Jahr inszenierte Lübbe in Nürnberg „Pornographie“. Jetzt folgt am 25. April (19.30 Uhr) in der Tafelhalle die Premiere von „Motortown“, das Fiasko eines entwurzelten Soldaten in entfremdeter Heimat. Marco Steeger spielt diesen Danny.
AZ: Herr Lübbe, bei „Pornographie“ gab’s erhöhte Aufmerksamkeit durch voreilige Skandal-Rufe. Darf man am Ende wieder mit Nackten auf der Bühne rechnen?
ENRICO LÜBBE: Nein, Nackte gibt’s nicht. Aber es gibt eine von der Wirkung her sehr brutale Szene der Hauptfigur Danny, der ein kleines Mädchen niederstreckt. Da haut’s einen aus den Schuhen und man denkt sich: Das ist jetzt grad nicht mehr lustig.
Ein Schocker?
Es geht nicht um Schock um des Schocks willen. Es geht um einen jungen Menschen, der aus dem Krieg zurückkommt und in seiner alten Umgebung versucht, sich zurechtzufinden, und scheitert, Koordinaten auszumachen.
Aber was haben die Psycho-Probleme eines britischen Kriegs-Veteranen mit Nürnberg zu tun?
Als ich das Stück von Stephens vor drei Jahren das erste Mal las, habe ich auch gedacht: Typisch englisches Stück, das für uns Deutsche wenig relevant ist. Das Erschreckende ist: Das Thema Krieg ist wieder da. In einem schleichenden Prozess hat es an Brisanz und Aktualität gewonnen. Traumatisierte Soldaten kennt man hier jetzt auch. Die kehren zwar nicht aus dem Irak zurück. Aber dieser Krieg ist ja auch nur ein Puzzlestein in der Story.
Bei dem Thema denkt man sofort an Hollywood. An Scorceses „Taxi Driver“, an Oliver Stones Vietnam-Trilogie.
Man kann auch an „Woyzeck“ denken und „Draußen vor der Tür“. Das Stück funktioniert wie ein expressionistisches Stationendrama. Ein richtiges Interesse an ihm, wie es ihm geht, daran, was er erlebt hat, hat in all den Begegnungen keiner. Im Gegenteil: Er erfährt in jeder Szene eine Demütigung. Und sei es nur, dass ihm ein Freund vorwirft, musikalisch nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Und irgendwann dreht er halt durch.
Muss man mit diesem Danny Mitleid haben?
Das wäre doch ein bisschen zu viel. Aber Danny ist nicht unsympathisch. Simon Stephens sagte über seine Figur: Mit dem würde ich gerne mal ein Bier trinken gehen.
Von einem „Reigen extremer Charaktere“ ist die Rede. Kann man sich das als Freakshow vom Leibe halten?
Freakshow wäre überzogen. Natürlich sind das alles merkwürdige Typen mit einer Beschädigung. Es gibt wenig Figuren in „Motortown“, deren Tun man nicht nachvollziehen kann. Das macht das Ergebnis vermutlich so erschreckend.
Die Ausnahmen werden zur Regel. Ist das fatalistisch?
Glaube ich nicht. Eigentlich beschreibt Stephens nur. Die Weltsicht ist natürlich bedrückend und die Atmosphäre sehr düster.
Sehen Sie Gedankenverbindungen zu „Pornographie“?
Da gibt es Parallelen. Auch da sieht man Gestalten, denen man ebenso Übergriffe zutrauen würde, wo man sich denkt: Wer ist der Schurke? Sie bilden das Tableau für Dannys Geschichte und sind nicht weniger wichtig.
Weil Stephens nicht an die eine Ursache glaubt?
Das ist das Gute an ihm, dass er keine Lösung artikuliert.
„Motortown“ ist Ihrer Ansicht weniger Anti-Kriegs-Stück als Gesellschaftsanalyse. Was ist es? Ein Drama?
Kann man sagen. Jedenfalls ist es keine Komödie.
Und eine Groteske?
Vielleicht punktuell.
Was bedeutet eigentlich der Stücktitel?
Danny stammt aus Essex, dort steht eine Ford-Fabrik. es ist also eine Autostadt.
Interview: Andreas Radlmaier