Interview

Interview mit Psychiater: "Der Depressive fühlt sich eh wie ein Versager"

Immer öfter fehlen Menschen bei der Arbeit wegen psychischer Erkrankungen, zeigt ein DAK-Report. Psychiater Ulrich Voderholzer spricht über die Entwicklung und berät Betroffene und Angehörige.
von  Ruth Schormann
Ein Mangel an körperlicher Bewegung kann Depressionen begünstigen.
Ein Mangel an körperlicher Bewegung kann Depressionen begünstigen. © imago/Westend61

Alarmierende Zahlen hat die Krankenkasse DAK zuletzt veröffentlicht: 2022 fehlten ihre Versicherten wegen Depressionen und anderer psychischer Erkrankungen so viel wie noch nie seit dem Start der DAK-Analysen im Jahr 1997. Höchststand beim Arbeitsausfall! Besonders junge Menschen und Mitarbeitende im Gesundheitswesen sind betroffen. Das gleiche wurde am Freitag für Bayern bekannt: Demnach stiegen die psychisch bedingten Fehltage auf der Arbeit 2022 um sieben Prozent auf 255 Fehltage je 100 Versicherte.

Woran liegt es? Und was kann die Gesellschaft, aber auch jeder Einzelne tun, um Depressionen vorzubeugen? Professor Ulrich Voderholzer, Psychiater aus Prien, erklärt es im Gespräch mit der AZ.

Ulrich Voderholzer.
Ulrich Voderholzer. © xx

AZ: Herr Voderholzer, wie erklären Sie sich den deutlichen Anstieg bei den Fehltagen durch psychische Erkrankungen? Die DAK hat 48 Prozent Zuwachs im Zehn-Jahres-Vergleich festgestellt.
ULRICH VODERHOLZER: Ich erkläre mir das schon teilweise dadurch, dass es über die letzten Jahrzehnte normaler geworden ist, sich wegen einer psychischen Erkrankung krankschreiben zu lassen. Die Zahl der Fehltage pro Jahr hat sich über die Jahre gar nicht so stark verändert, aber der Anteil an psychischen Erkrankungen daran hat zugenommen und der anderer Krankheiten abgenommen. Zum Teil ist es also ein relativer Anstieg. Und: Bei Depressionen ist es eher akzeptiert, dass es länger dauert.

Also gab es früher schon genauso viele Depressive, sie wurden nur nicht so oft deswegen krankgeschrieben - aus Scham möglicherweise?
Bei vielen psychischen Erkrankungen haben sich die Häufigkeiten wahrscheinlich tatsächlich nicht stark verändert, es gibt aber Ausnahmen.

"Es gibt einen Zuwachs an Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen "

Welche?
Tatsächlich gibt es mehr Depression bei jüngeren Menschen beziehungsweise Depressionen treten zu einem zunehmend früheren Zeitpunkt in ihrem Leben auf. Und es gibt einen Zuwachs an Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie mehr Essstörungen bei Jugendlichen. Bei Krankheiten wie Schizophrenie gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie häufiger geworden wären.

Früher sind Depressionen vielleicht aber auch nicht so gut erkannt worden?
Man hat heute auch andere Diagnosekriterien, ja. Früher hat man Depressionen nur bei sehr schweren Depressionen diagnostiziert, heute erfüllt ein Mensch die modernen Kriterien für Depression auch leichter.

Sie haben bereits junge Menschen angesprochen. Auch der DAK-Report zeigt auf, dass es einen besonders hohen Anstieg bei Frauen und Männern zwischen 25 und 29 Jahren gibt. Woran könnte das liegen?
Teilweise liegt es daran, dass junge Menschen heute mehr auf sich achten, sich mehr um sich kümmern, wenn sie sich nicht gut fühlen. Die Hemmschwelle, sich krankschreiben zu lassen, ist niedriger geworden. So erlebe ich es zumindest. Darüber hinaus gibt es natürlich gesellschaftliche Entwicklungen, die mit einem höheren Risiko für Stressbelastung verbunden sind.

 Mangel an Bewegung  kann Depressionen fördern

Welche meinen Sie?
Der Leistungsdruck zum einen. Heute wird von jedem im Job Leistung erwartet, zum Beispiel auch Kassiererinnen im Discounter werden streng überwacht, wie viel sie durchschleusen. Auch Mobilität, häufige Wohnortwechsel und ein daraus resultierendes fehlendes soziales Netz spielen eine Rolle. Großfamilien gibt es weniger. Und es kommen körperliche Faktoren dazu.

Zum Beispiel?
Der Mangel an Bewegung bei vielen - und das Leben in Großstädten. Es gibt Forschungen dazu, dass das Risiko für Depressionen bei Menschen, die in Großstädten leben, größer ist.

Bewegung und Wohnort kann ich selber beeinflussen. Was aber können der Arbeitgeber und die Gesellschaft an sich machen, um Depressionen vorzubeugen?
Das Problem für viele psychisch Kranke ist, dass Psychotherapie schlecht verfügbar ist in Deutschland. Wenn Sie heute einen Psychotherapeuten benötigen, was ja eine Standardbehandlung von leichten und mittelschweren Depressionen ist, haben Sie durchschnittlich mindestens Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr.

"Ein gutes Arbeitsklima spielt eine wichtige Rolle"

Selbst in München?
In München ist die Versorgung noch besser als beispielsweise in Nord- und Ostbayern, wo man noch schwieriger einen Therapieplatz findet. So begründen sich auch die langen Fehlzeiten, weil die Leute oft krankgeschrieben werden, bis die Therapie losgeht. Wir kämpfen daher auch dafür, dass man per Videokonferenz therapiert werden kann. Das wird aber von manchen Kassen noch gar nicht anerkannt, obwohl es auch eine Methode ist in Gegenden, wo es gar nicht viele Psychotherapeuten gibt. Viele ziehen Online-Sprechstunden auch vor, weil sie Fahrtwege sparen. Da sind andere Länder schon weiter.

Und in den Betrieben selbst?
Ein gutes Arbeitsklima spielt eine wichtige Rolle, Wertschätzung der Mitarbeiter und die Kommunikation innerhalb der Firma. Andere Länder sind auch hier weiter: In der Schweiz zum Beispiel ist es möglich, halbtags krankgeschrieben zu werden. Das bietet sich an, wenn jemand eine Depression hat. Zu Hause fällt ihm die Decke auf den Kopf, aber die Arbeit in bisheriger Form schafft er nicht mehr, da bietet sich sowas an.

Stichwort Wertschätzung: Das Gesundheitswesen hatte harte Zeiten durch Corona. Wenig verwunderlich, dass es in dieser Branche 44 Prozent mehr Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen gab als in anderen Branchen, oder?
Definitiv war die Arbeitsbelastung in der Corona-Zeit höher: Man musste immer mit Maske arbeiten, man musste testen, man hatte sehr viele Sonderregeln, musste sich abstimmen. Das war für alle belastender, so zu arbeiten. Das Pflegepersonal auf Intensivstationen war natürlich extrem belastet. Und: Nicht wenige haben Long-Covid-Syndrome. Wir hoffen, dass diese Belastung bald aufhört.

Wie merke ich als Angehöriger, dass eine mir nahestehende Person vielleicht eine Depression hat - und wie kann ich helfen?
Von Depression sprechen wir, wenn die Symptome über 14 Tage anhalten. Einen schlechten Tag hat jeder mal. Wenn man aber merkt, dass sich jemand zurückzieht, unruhig und nervös ist, Schlafstörungen hat oder auch gereizt ist. Depression bei Männern zeigt sich oft durch gereizte Stimmung, cholerische Ausbrüche bei nichtigsten Gelegenheiten. Aber es ist nicht immer leicht zu erkennen. Das Wichtigste, was Angehörige tun können, ist: ernstnehmen und mit den Betroffenen reden. Zuhören und nicht mit einem "Reiß dich zusammen" reagieren. Der Depressive fühlt sich schon wie ein Versager, wenn dann die Angehörigen sowas sagen, wird sein Schuldgefühl noch mehr verstärkt.

Was kann man präventiv unternehmen?
Wer stabile Beziehungen hat und diese pflegt, ist viel weniger anfällig für Depression. Alleinlebende Frauen haben ein höheres Risiko als solche, die in einer stabilen Partnerschaft leben, weil man jemanden hat, mit dem man reden kann. Das ist ja klar.

Was kann ich Betroffenen besser raten als "Reiß dich zusammen"?
"Lass uns spazieren gehen" wäre besser - eine gemeinsame körperliche Aktivität hilft mehr als ein Vorwurf. Körperliche Aktivitäten sind ein Heilmittel für Depressive. Inaktivität verstärkt manchmal Depressionen. Wenn man sich mal überwunden und bewegt hat, geht es vielen etwas besser.


Depressionen können mit professioneller Hilfe gelindert und geheilt werden. Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie bei der Telefonseelsorge: 0800–111 0 111 und 0800–111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist kostenlos.

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