Interview mit Karl-Heinz Hummel: Bayerische Bestien - "Das hat an sich schon etwas Bedrohliches"

AZ: Herr Hummel, Sie haben zahlreiche Sagen über bayerische Wasserwesen gesammelt. Haben Sie einen Liebling?
KARL-HEINZ HUMMEL: Natürlich das Rockadirl vom Tegernsee! Als vor mehr als 25 Jahren der Ötzi gefunden wurde, habe ich ein Theaterstück über ihn geschrieben und dafür eine Frauenfigur gebraucht. Bei der Recherche bin ich auf die Textzeile "im Tegernsee schwimmt nachts eine Jungfrau, das Rockadirl genannt" gestoßen – und die habe ich dann zum Theaterleben erweckt: als eine erotische Berg- und Wasserhexe.
Was hat es mit ihr auf sich?
Das Rockadirl wurde ins Kloster Tegernsee gesperrt und ist von dort geflohen, um seine Freiheit zu erlangen. Voller Verzweiflung ging die junge Frau ins Wasser, hat auf dem Grund des Sees gesponnen und wurde dann, auf Initiative der Wallberghexe, vom Fährmann gerettet. Seitdem kann man sie nachts im See schwimmen sehen – mit etwas Glück.
Im Buch erzählt Ihnen Rockadirl all die Sagen. Wo sind Sie wirklich fündig geworden?
Zum Teil in Sammlungen wie den Leitzachtaler Sagen. Außerdem gibt es eine sehr gute Datenbank, sagen.at, und wird von den Ethnologen der Uni Innsbruck betrieben. Dort sind rund 23.000 Sagen gesammelt. Einen Teil habe ich aber auch selbst erfunden – wie die Geschichte vom Waller im Ammersee, ...
... der sich in eine Seenixe verliebt. Allerdings hat der Waller auch in "echten" bayerischen Legenden oft eine Hauptrolle. Warum?
Waller sind sehr intelligent. Sie jagen zusammen und können elektrische Impulse von Beutetieren selbst in fließenden Gewässern auf weite Entfernung registrieren. Zudem werden sie sehr alt – und sehr groß. Der Waller ist auch in vielen japanischen Geschichten zu finden, wo ihm eine ähnliche Rolle zukommt, wie dem Waller im Walchensee: dass er gefährlich sein, Überschwemmungen und Unglücksfälle auslösen kann.
Es heißt, auf dem Grunde des Walchensees ruhe ein riesiges Exemplar. Reizt man es, könne es mit einem Schlag seiner enormen Schwanzflosse den Kesselberg zertrümmern.
Das ist eine sehr alte Sage. Der Walchensee liegt über Kochel. Das hat an sich schon etwas Bedrohliches. Wenn der Kesselberg weg ist, überschwemmt der See das gesamte Oberland.
Welche Rolle spielt die Urangst des Menschen vor dem Ertrinken in den Sagen?
Angst vor der Tiefe, vor Strudeln, vor der Unberechenbarkeit von Wind und Wetter – all das sind reale Ängste. Hinzu kommt das Unbekannte: Das da unten ist eine Gegenwelt, die noch weniger erforscht ist als die Erdoberfläche. Vier Fünftel der Erde bestehen aus Wasser und die Kontinente da unten sind eine Spiegelwelt, die die Fantasie anregt. Schon in alten Atlanten tauchen Meeres-Dämonen auf.
Welches Ungeheuer war das gefährlichste, dem Sie bei der Recherche begegnet sind?
Das spannendste war der Drache im Staffelsee, weil er dort noch von manchen als existentes Wesen benannt wird. Man sagt, dass die Inseln im See bei der Explosion entstanden sind, mit der der Drache umgebracht worden ist, damit er nicht weiter die Leute terrorisiert und jedes Jahr eine Jungfrau als Opfer fordert. Der Drache ist insofern interessant, weil er als mythologische Figur in allen Kulturen vorhanden ist – mal böse, mal liebevoll.