Honigbrot in der Tasche

NÜRNBERG - Rund 12.000 Besucher kamen zu den Lesungen und Diskussionen des Erlanger Poetenfestes.
Rauchzeichen aus drei Wigwams vor der Orangerie im Schlossgarten gaben dem 28. Erlanger Poetenfest, das am Sonntag mit dem Auftritt des türkischen Bestsellers Murathan Mungan und mehr als 12.000 Besuchern endete, sogar eine Duftnote. Eine Brüderschaft aus Kennern und Liebhabern hatte der traditionell der Gegenwarts-Literatur gewidmeten und diesmal mit 80 Autoren auf dem Umweg zur Frankfurter Buchmesse aufwartenden Veranstaltung „Eine Nacht mit Karl May“ untergejubelt. Da konnte man bei Filmschnipseln, Lesungen und abenteuerlichen Debatten um wahre Bedeutung annähernd stilgerecht „Bären-Eintopf“ essen, ehe Schauspieler Jochen Kuhl mit gesalbter Stimme zu Winnetous Tod führte.
30 Auftritte im Stunden-Takt
Zwischen den Bäumen der Parkanlage, wo das Sitz- und Laufpublikum an der neuen Fabulier-Ernte naschen durfte, gab es stilistische Berg- und Talfahrt. Am Wochenende 30 Auftritte im Stunden-Takt (halbe Stunde Lesung, halbe Stunde Gespräch), teils mit den Fahnenabzügen demnächst erscheinender Bücher bewaffnet. Das Spalier bot beispielsweise nacheinander Evelyn Grill, die in „Das Römische Licht“ ihre Töchter ans eigene „Koma-Bett“ setzt (und sagte, sie sei nun gespannt „wie sie darauf reagieren“), Norbert Krons moralisch unbedenklichen Callboy-Plot „Der Begleiter“, Marcel Beyers Zoologen-Studie mit Konrad-Lorenz-Touch „Kaltenburg“ und Ulrike Draesners Gedichte mit der drängenden Frage, warum St. Martin nicht den ganzen Mantel hergegeben hat. Lokalmatador Habib Bektas, ein Lyriker mit Zweit-Karriere als Wirt, führte in seinen Roman der kurzen Sätze ein. Da begegnete dem Hörer „eine Stimme, weich wie der Busen meiner Mutter“ und das klebrige Malheur eines Honigbrots in der Hosentasche. Größten Publikumserfolg hatte Ingo Schulze mit seiner Wendezeit-Erzählung von 1989 um „Adam und Evelyn“. Erheiterung auf der Höhe der „Simple Storys“. Da marschierten die Zuhörer nahezu geschlossen von der Lesung (Hauptpodium) zum Gespräch (Nebenpodium) mit.
„Sprichwörterberatung“ und Deutungs-Möglichkeiten fürs Bären-Aufbinden
Fünfzig Meter entfernt gab es Stau in Häufchen im Strom der Gäste. Rolf-Bernhard Essig („Wie kommt die Kuh aufs Eis?“) öffnete seine Freilicht-Praxis der „Sprichwörterberatung“ und bot Deutungs-Möglichkeiten fürs Bären-Aufbinden. Dahinter ging es in Diskussion-Serien ernsthafter zur Sache. Es war auch die intellektuelle Elastizität der Moderatoren gefragt. Wilfried Schoeller etwa, in Berlin lebender Generalsekretär des P.E.N.-Zentrums und Urgestein des Poetenfestes, musste direkt nacheinander „Vom Brockhaus zu Wikipedia“ die Zukunft des abrufbaren Wissens erörtern (da beschwor er fürsorglich die Copyright-Rechte) und den jungen Iraker Abbas Khider vorstellen. Eine hochinteressante Figur mit schrecklichen Erfahrungen und entwaffnendem Lachen. Durchaus passend zu den Väter-Traumatas der prominenteren Herren Josef Winkler und Volker Schlöndorff – aber geprägt von Folter und vierjähriger Flucht-Odyssee, die auf dem Weg nach Schweden 2004 im fränkischen Ansbach abrupt endete. Mit „Der falsche Inder“ hat er seinen ersten Roman in deutscher Sprache geschrieben. Imam wollte er nur im Alter von zehn Jahren werden, jetzt imponiert ihm mehr als alle Religion die beruhigende Erfahrung, „dass man hier immer eine Frau findet, die einem weiterhilft“. Sprach’s und lachte schallend. Aus München ist er jetzt weggezogen, weil der deutsche Staatsbürger (seit 2007) da „dreimal wöchentlich“ kontrolliert wurde und „nun alle Polizisten Bayerns die Farben meiner Unterhosen kennen“. Auf die Frage, wie er das alles, was ihm passierte, ausgehalten habe, empfahl der 35-Jährige „Geduld und Humor“.
Adenauer-Kritiker Schlöndorff landete bei der CSU
Damit kam man auch beim Poetenfest weiter. Denn die vorweg vermutete große Wende weg vom Privaten hin zur Beschäftigung mit der Gesellschaft (immerhin, bei der Debatten-Matinee gestern waren 500 Personen, die das Thema „1968“ nicht scheuen) muss noch eine Saison warten. Nur Volker Schlöndorff vereinigte alles in sich. Ehe er in Erlangen individuell das konservative „Adenauer-Deutschland“ attackierte, hatte er in Nürnberg seine alte Freundin Dagmar Wöhrl besucht und war dabei verblüfft in eine CSU-Wahlveranstaltung geraten. Dieter Stoll