Interview

Holetschek skeptisch: "Wiesn? Vielleicht mal mittags"

Gesundheitsminister Klaus Holetschek über das Oktoberfest, Masken in der S-Bahn und die Finanzierung der Krankenkassen.
von  Natalie Kettinger
"Wenn Gesundheitspolitik jetzt vom Bundesfinanzminister gemacht wird, können wir uns den Bundesgesundheitsminister sparen", sagt Klaus Holetschek im Gespräch mit der AZ.
"Wenn Gesundheitspolitik jetzt vom Bundesfinanzminister gemacht wird, können wir uns den Bundesgesundheitsminister sparen", sagt Klaus Holetschek im Gespräch mit der AZ. © Daniel von Loeper

AZ: Herr Holetschek, am Samstag beginnt das Oktoberfest. Werden Sie hingehen?
KLAUS HOLETSCHEK: Am Samstag bin ich auf jeden Fall nicht da. Der Anstich ist ja auch kein Termin, der für den Gesundheitsminister obligatorisch wäre. Ich werde unter der Woche vielleicht mal mittags hingehen.

Vorausgesetzt, Sie entscheiden sich für einen Wiesn-Besuch: Der Ministerpräsident hat kundgetan, er werde dort keine Maske tragen. Und Sie?
Auf der Wiesn macht die Maske tatsächlich wenig Sinn. Aber im Kern ist das Oktoberfest ein Thema der Eigenverantwortung: Jeder soll selbst entscheiden, ob er hingeht und ob er eine Maske trägt oder auch nicht. Große Einschränkungen wären da sowieso nicht praktikabel. Klar ist: Wer sich krank fühlt oder Symptome hat, die auf Covid-19 hindeuten können, sollte nicht auf die Wiesn gehen. Und wem es möglich ist, der kann sich überlegen, ob er nach einem Wiesn-Besuch zwei oder drei Tage von zu Hause arbeiten will.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) plädiert dafür, sich vorher zu testen. Macht das Sinn? Schließlich schlagen Schnelltests nicht immer an.
Ein Test schadet aber auch nicht. Einen Selbsttest zu machen, finde ich völlig in Ordnung. Die bekommt man heute ja überall.

"Es wird schwierig, die Maskenpflicht im ÖPNV durchzusetzen"

Nach dem Dachauer Volksfest und dem Gäubodenfest sind die Infektionszahlen explodiert. Wie große Sorgen bereitet Ihnen ein vergleichbares Post-Wiesn-Szenario?
Ich habe erst vor Kurzem mit Markus Pannermayr telefoniert, dem Oberbürgermeister von Straubing. Er sagte, die Infektionszahlen seien zwar gestiegen - aber Gott sei Dank war die Situation in den Krankenhäusern nicht dramatisch. Das ist ein wichtiges Szenario in der Bewertung. Das Oktoberfest ist selbstverständlich eine andere Nummer vom Zuschauerzuspruch her. Aber die Stadt München hat sich vorbereitet. Es gab Gespräche auf verschiedenen Ebenen - wir waren auch mit eingebunden - und es wird versucht, das Beste zu tun.

Zur Wiesn kommen Besucher aus ganz Bayern. Inwieweit hat sich der Freistaat darauf vorbereitet?
Zunächst einmal ist München involviert. Die Landeshauptstadt hat das Oktoberfest genehmigt - es gab auch keine Rechtsgrundlage, das nicht zu tun. Die ärztliche Versorgung findet primär in München statt, in den Kliniken, mit den Rettungsdiensten vor Ort. Wenn wir uns einbringen können, dann tun wir das. Die Krankheitsschwere hat bei Omikron zum Glück ja nachgelassen. In den Krankenhäusern sind derzeit die Personalausfälle das Entscheidende. Damit müssen wir umgehen. Aber man kann sich nicht im Detail auf alle Eventualitäten vorbereiten.

Wer ab Oktober mit dem Flugzeug anreist, braucht keine Maske mehr zu tragen - wer mit dem Zug kommt, schon. Verstehen Sie das?
Das kann wohl außer den Herren Lauterbach und Buschmann niemand verstehen. Es ist absurd, die Maskenpflicht in den Flugzeugen aufzuheben, aber in Fernzügen zu belassen. Denn wenn man davon überzeugt ist, dass die Maske wirkt, macht eine Ausnahme für ein Verkehrsmittel keinen Sinn. Das ist doch der Unterschied zum Oktoberfest-Besuch: Eine Geschäftsreise mit dem Flugzeug macht man in der Regel nicht freiwillig. Deswegen sollte es hier einen bestmöglichen Schutz vor Infektionen geben. Es ist auch seltsam, wenn Karl Lauterbach jetzt sagt, er habe durchgesetzt, dass dafür in Arztpraxen Maske getragen werden muss. Das hätten die Länder sowieso eigenständig gemacht.

Viele Wiesn-Gäste, die sich nach ein, zwei Maß in die S-Bahn oder den Zug setzen, werden sich eher nicht an die Maskenpflicht halten. Wie soll sie durchgesetzt werden?
Natürlich wird das schwierig. Aber das ist kein Grund, auf die Verpflichtung zu verzichten. Die Maske im ÖPNV ist ein Gebot der Rücksichtnahme - und dazu sollte man auch noch in der Lage sein, wenn man eine Maß Bier getrunken hat. In den Zügen sitzen ja nicht nur Oktoberfest-Besucher, sondern vielleicht auch Menschen, die sich schützen und geschützt werden wollen, weil sie eine Vorerkrankung haben, eine Operation hatten oder älter sind. Insofern appellieren wir auch hier an die Vernunft.

Experten sind uneins darüber, was uns in den kommenden Monaten erwartet. Der Virologe Christian Drosten rechnet mit sehr vielen Infektionen und etlichen Krankheitsausfällen. Der Bioinformatiker Lars Kaderali glaubt, dass alles nicht so heftig wird, weil schon so viele Menschen mit Corona in Berührung gekommen sind. Was meinen Sie?
Beide haben nachvollziehbare Argumente. Einerseits haben sich in der Zwischenzeit viele Menschen infiziert und ein großer Anteil der Menschen ist inzwischen geimpft - auch wenn es noch Luft nach oben gibt, weshalb wir eine Impfkampagne machen. Impfen ist der beste Schutz vor schwerem Verlauf und Tod bei einer Corona-Infektion, daher werbe ich weiterhin dafür. Das alles wird uns helfen. Andererseits kann man sich auf dem Oktoberfest natürlich anstecken und muss dann in Isolation. Was man auch nicht ganz außer Acht lassen darf, sind Long- und Post-Covid. Insofern ist es gut, wenn man sich weiterhin vorsichtig verhält und schützt. Gerade das Chronische Fatigue-Syndrom, das auch im Zusammenhang mit Long- und Post-Covid auftritt, ist eine große Belastung. Die fortwährenden Konzentrationsstörungen und Ermüdungserscheinungen erzeugen einen extremen Leidensdruck. Deshalb hat der Freistaat Bayern fünf Millionen Euro für die Forschung in diesem Bereich in die Hand genommen. Erst am Montag wurde eine Studie aus Australien öffentlich, in der die volkswirtschaftlichen Kosten von Long- und Post-Covid auf 3,6 Milliarden Dollar beziffert werden.

Würden Sie es dennoch befürworten, die Isolationspflicht für Infizierte abzuschaffen - wie etwa Österreich -, um den Arbeitsbereich zu entlasten?
Was wir zuerst brauchen, ist eine wissenschaftliche Aussage. Deshalb hatte ich angeregt, das Robert-Koch-Institut solle prüfen, ob die Isolationspflicht noch erforderlich ist. Die ursprünglichen Regelungen hatten wir ja auch auf Empfehlung des RKI beschlossen. Insofern würde ich mir wünschen, dass Professor Wieler sich hierzu äußert. Leider kam vom Bundesgesundheitsministerium die Rückmeldung, man sehe keine Veranlassung, an der bestehenden Vorschrift etwas zu ändern. Dabei wäre es wertvoll zu wissen, welche Erfahrungen Österreich mit der Aufhebung der Isolationspflicht gesammelt hat: Ist Eigenverantwortung möglich? Bleiben die Leute daheim? Oder reagieren sie unvernünftig? Vielleicht hätte Karl Lauterbach neben Israel auch Österreich besuchen sollen.

In den ersten Wellen sind Hunderte Menschen in Senioren- und Pflegeheimen an Corona gestorben. Trotzdem will Bayern die ab 1. Oktober geltende Booster-Pflicht für Pflegepersonal nur bei Neueinstellungen umsetzen - ist das nicht grob fahrlässig?
Eigentlich müsste man die einrichtungsbezogene Impfpflicht ganz aussetzen, weil sie der erste Schritt zur allgemeinen Impfpflicht sein sollte, die aber nicht kommt. Aus den Einrichtungen und Krankenhäusern hören wir außerdem: Wenn sich am 1. Oktober der Status der vollständigen Grundimmunisierung ändert - weil zwei Impfungen nicht mehr ausreichen -, ist die Versorgungssicherheit bedroht. Ein eklatantes Problem, dem man entgegenwirken muss. Wir werben weiterhin fürs Impfen - aber in diesem Kontext brauchen wir Pragmatismus anstelle von Bürokratie.

Im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind Hunderttausende Menschen nach Bayern geflohen. Liegt hierin nicht ein gewisses Potenzial, Pflegekräfte zu gewinnen?
Doch. Und wir wenden in der Anerkennung von Berufsabschlüssen auch vereinfachte Verfahren an, sowohl bei Ärzten als auch in der Pflege. Man kann von jemandem, der auf der Flucht ist, nicht erwarten, dass er alle Zeugnisse dabei hat. Auch da muss man pragmatisch vorgehen und schauen, dass man die Menschen gewinnt. Bisher wurden in Oberbayern - und auch in den anderen Regierungsbezirken - allerdings keine Anträge auf Anerkennung von Pflegefachkräften aus der Ukraine gestellt. Unabhängig von der aktuellen Krise wollen wir die Anerkennung ausländischer Fachkräfte jetzt beim Landesamt für Pflege zentrieren, weil sie einfach schneller gehen muss. Die Pflege bleibt ja ein Riesen-Thema.

Sind Sie eigentlich schon zum zweiten Mal geboostert?
Nein. Ich bin drei Mal geimpft und ein Mal genesen und warte jetzt auf die neue Stiko-Empfehlung, wann der nächste Booster ansteht.

Am Freitag soll der Bundesrat das neue Infektionsschutzgesetz beschließen. Stimmt Bayern zu?
Nach jetzigem Stand enthalten wir uns gemäß Koalitionsvertrag mit den Freien Wählern. Wir brauchen aber die Rechtsgrundlage. Käme das Gesetz nicht, hätten wir ja keinerlei Handhabung für Maßnahmen. Aber es gibt durchaus Punkte, die wir für schwierig halten. Ich habe zum Beispiel gefordert, dass die Kriterien, wann schärfere Maßnahmen ergriffen werden sollten, konkretisiert werden. Aber die Bundesregierung ist stur geblieben - damit besteht die Gefahr, dass wir den berühmten Flickenteppich bekommen.

"Im Gesundheitssystem steuern wir auf einen Blackout zu"

Vom Finanzstabilisierungsgesetz für die Gesetzlichen Krankenversicherungen ist die Staatsregierung noch weniger begeistert. Warum?
Meiner Meinung nach steuern wir in Deutschland nicht nur auf einen Energie-Blackout zu, sondern auch auf einen Blackout unserer Gesundheitssysteme. Was da derzeit passiert, sehe ich total kritisch. Das ist ein reines Stopfen von Löchern.

Inwiefern?
Insofern, dass es ein Zusatzbudget für Ärzte gab, um die Neuaufnahme von Patientinnen und Patienten regelhaft zu vergüten. Die Neupatientenregelung hat Karl Lauterbach mit auf den Weg gebracht, jetzt wird sie wieder gestrichen. Das wird zu längeren Wartezeiten führen, was falsch ist. Beim Thema Arzneimittel werden bestimmte Weichenstellungen vorgenommen, die ebenfalls falsch sind: weil Lieferketten zum Teil jetzt schon nicht funktionieren, weil wir möglicherweise Standortverlagerungen kriegen, weil das Vertrauen der Forschenden in die Politik nachlässt. Dabei haben wir jetzt schon Medikamentenengpässe in manchen Bereichen. Außerdem kommt der Bund seiner Verpflichtung nicht nach, die Beiträge für die Arbeitslosengeld-Versicherung II zu zahlen. Das wären allein neun Milliarden Euro für die GKV. Bei den Krankenhäusern führen eine teils Verdreifachung der Energiekosten, die Inflation und rückgängige Fallzahlen zu einem kalten Strukturwandel, und die Pflegeversicherung ist auch auf Kante genäht. Aber man kann die Preise in der Pflege doch nicht weitergeben wie in anderen Bereichen - was auch schon schwierig ist. Hier braucht es auch eine soziale Komponente, die trägt.

Das Thema ist nicht ganz neu.
Nein. Wir haben bereits im Juni in einer Gesundheitsministerkonferenz beschlossen, dass es einen Ausgleich braucht für die stark gestiegenen Kosten in den Einrichtungen. Doch bis heute ist nichts passiert. Karl Lauterbach teilt unsere Analyse - und verweist dann auf Christian Lindner. Es kann aber doch nicht sein, dass die Gesundheitspolitik jetzt vom Bundesfinanzminister gemacht wird. Wenn wir so weit sind, können wir uns den Bundesgesundheitsminister sparen - und Herr Lindner ist in Zukunft beides. Das ist doch Wahnsinn!

Ihr Lösungsvorschlag?
Wenn wir 100 Milliarden in den Topf werfen, weil wir Krieg haben und die Bundeswehr nicht richtig funktioniert, müssen wir jetzt auch Geld für unser Gesundheits- und Pflegesystem in die Hand nehmen. Wir brauchen Nachhaltigkeit und echte Verbesserungen.

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