Hohe Krankenstände in Bayern – Gibt es eine Inflation der Blaumacher?

Die Zahl der Arbeitsausfälle steigt – auch in Bayern. Die meisten Fehltage sind auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, aber auch "Rücken" ist ein leidiges Problem.
von  Ralf Müller
Arbeitgeber sehen als Grund für den hohen Krankenstand die telefonische Krankschreibung.
Arbeitgeber sehen als Grund für den hohen Krankenstand die telefonische Krankschreibung. © Christin Klose/dpa

München – Die Arbeitnehmer in Bayern sind zwar gesünder als ihre Kollegen im Rest der Bundesrepublik, aber auch sie kränkeln immer öfter. Das ist der jüngsten Analyse der Krankenkasse DAK Gesundheit zu entnehmen. In Bayern stieg die Zahl der Krankmeldungen in den vergangenen Sommermonaten um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal. Die Zahlen befeuern die Debatte ums Blaumachen und die telefonische Krankschreibung.

Die Fakten: Von Juli bis September registrierte die drittgrößte Krankenkasse Bayerns mit 753.000 Versicherten einen Krankenstand von 4,4 Prozent. Das bedeutet, dass an jedem Tag im dritten Quartal im Durchschnitt 44 von 1000 Arbeitnehmern krankgeschrieben waren. Im Bundesdurchschnitt lag der Krankenstand mit fünf Prozent noch höher.

Viele Fehltage im Sommerquartal "eher ungewöhnlich"

Die meisten Fehltage wurden psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zugeschrieben (78 Fehltage je 100 Versicherte). Fast ebenso viele Fehltage wurden mit Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Rückenproblemen (76 pro 100 Versicherte) begründet.

Verwundert zeigte sich die DAK über die hohe Zahl von Krankmeldungen aufgrund von Atemwegserkrankungen (54 Fehltage je 100 Versicherte). Für ein Sommerquartal mit vielen warmen Tagen sei dies "eher ungewöhnlich".

Einen Lichtblick gab es für die bayerischen Arbeitgeber, welche die Krankmeldungen betrieblich und finanziell aufzufangen haben: Die durchschnittliche Dauer eines Falles ging auf 10,1 Tage zurück (Vorjahresquartal: 11,1 Tage), so dass der gesamte Arbeitsausfall von Juli bis September in etwa dem des Vorjahresquartals entsprach.

Am meisten macht den Arbeitnehmern auch in Deutschland ihre Psyche zu schaffen. 2023 zählte das Barmer-Institut für Gesundheitsforschung allein 409.000 depressive Menschen im Alter von fünf bis 24 Jahren – 30 Prozent mehr als 2018. Trotz Ende der Corona-Pandemie ist die Zahl nicht etwa zurückgegangen, sondern weiter gestiegen. Die DAK nennt die Zunahme psychischer Krankheiten "die bei Weitem auffälligste Entwicklung".

Vbw will die telefonische Krankschreibung wieder abschaffen

Es komme nicht von ungefähr, dass in Branchen mit hohem Fachkräftebedarf und entsprechend hohen Arbeitsbelastungen mit die höchsten Krankenstände zu verzeichnet seien, sagt Herbert Hartinger, Sprecher des DGB Bayern. Wer die hohen Krankenstände auf die telefonische Krankschreibung schiebe, mache es sich viel zu einfach.

"Die Arbeitgeber täten gut daran, ihren Beschäftigten in dieser Frage stärker zu vertrauen", so der DGB-Sprecher: "Statt Krankmeldungen, ganz gleich welcher Art, anzuzweifeln, sollten Arbeitgeber lieber ein Umfeld schaffen, in dem die Gesundheit der Beschäftigten höchste Priorität hat."

Einen Grund für den hohen Krankenstand sehen die Arbeitgeber darin, dass es die telefonische Krankschreibung zu leicht mache, dem Arbeitsplatz fernzubleiben. Vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt unterstützt den Vorschlag von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), die telefonische Krankschreibung wieder abzuschaffen.

Diese Möglichkeit sei zu Corona-Zeiten aus Gründen des Infektionsschutzes richtig und wichtig gewesen. Dass diese Sonderregelung danach verstetigt wurde, sei allerdings nicht nachvollziehbar, so Brossardt: "Zur Vermeidung von Missbrauch ist nach unserer Auffassung eine ordnungsgemäß festgestellte Arbeitsunfähigkeit auf Grundlage einer persönlichen ärztlichen Untersuchung unabdingbar."

Damit stoßen die Arbeitgeber vor allem bei den Ärzteverbänden auf massiven Widerstand. Es bedeute einen hohen Mehraufwand, wenn jeder in die Praxis kommen müsse, der eine banale Erkältung habe und seine Kollegen nicht anstecken wolle, so der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt.

Gewerkschaften warnen davor, trotz Krankheit in die Arbeit zu gehen

Die Beschäftigten nähmen mehr Rücksicht auf ihre Arbeitskollegen und blieben bei Krankheitssymptomen oft schon prophylaktisch zu Hause, häufig auch auf Bitten des Arbeitgebers, um die Belegschaft nicht zu gefährden, räumt Arbeitgebervertreter Brossardt ein. Die telefonische Krankmeldung wollen die Arbeitgeber aber trotzdem kippen.

In der Debatte um den Krankenstand sieht der DGB das "viel größere Problem" darin, dass viele Beschäftigte sich eben nicht krankmelden, sondern oft noch angeschlagen zur Arbeit gehen. Bei einer Beschäftigtenbefragung des DGB gaben im letzten Jahr 61 Prozent der Befragten an, trotz Krankheit gearbeitet zu haben. 43 Prozent gingen eine Woche und mehr krank zur Arbeit. "Dieser ,Präsentismus' ist gesundheitlich, betrieblich und gesellschaftlich höchst schädlich", so DGB-Sprecher Hartinger.

Die DAK glaubt nicht an eine Inflation des Blaumachens: Die Anforderungen in der Arbeitswelt mit Digitalisierung und zunehmender Flexibilisierung nähmen zu, während der Personalmangel in vielen Branchen die Situation zuspitze. Wenn weniger Menschen mehr Arbeit verrichten müssten, steige die Gefahr von Überforderung und Stress.

Professor Volker Nürnberg, ein Experte für Betriebliches Gesundheitsmanagement, mit dem die DAK zusammenarbeitet, formuliert es so: "Wir sehen weiterhin den Zusammenhang zwischen Personalmangel und Krankenstand. Dieser Teufelskreis bekommt durch gravierende Veränderungen in der Arbeitswelt eine zusätzliche Dynamik. Die neuen strukturellen Bedingungen in der Arbeitswelt begünstigen den Anstieg der psychischen Erkrankungen."

"Schnellschüsse wie die Forderung nach einer Abschaffung der telefonischen Krankschreibung oder eine Blaumacher-Debatte helfen den Betroffenen und den Betrieben nicht weiter", mahnt Rainer Blasutto, Landeschef der DAK-Gesundheit in Bayern.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.