"Historischer Wendepunkt": Expertin zieht Cannabis-Bilanz in Bayern
München - Deutschland, das neue Paradies für Kiffer außer Kontrolle? So düster dürfte zumindest die Vorstellung von Kritikern gewesen sein. Seit 1. April ist Cannabis hierzulande teilweise legalisiert. 25 Gramm dürfen Erwachsene dabeihaben, bis zu drei Cannabispflanzen kann man daheim anbauen. Verkauf und Kauf sind weiter verboten.
Im August folgten weitere Regeln fürs Autofahren. Der Grenzwert für den berauschenden Wirkstoff THC wurde auf 3,5 Nanogramm je Milliliter Blut festgelegt.
"Seit Jahrzehnten wird an Drogenverboten festgehalten"
Wie ist eines der Lieblingsprojekte der Ampel mit etwas zeitlichem Abstand zu bewerten? Die AZ hat die Historikerin Helena Barop um ihre Einschätzung gebeten. Die Expertin hat sich auf die Geschichte von Drogen spezialisiert. Sie sagt: "Die Teillegalisierung von Cannabis ist ein historischer Wendepunkt."
Die Prohibition von Drogen sei gescheitert, "seit Jahrzehnten wird aber an Drogenverboten festgehalten, obwohl längst bekannt ist, dass solche Verbote in liberalen Staaten nicht dazu führen, dass die Konsumzahlen sinken". Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. "Die Prohibition gefährdet die Gesundheit und pumpt große Geldsummen in den Schwarzmarkt."
Sie bewertet es als "sehr gut", dass Deutschland mit der Teillegalisierung einen ersten Schritt gegangen sei.
"Sehr kreativ mit einer extrem schwierigen Lage umgegangen"
Ihre weitere Einschätzung: "Die Ampel-Koalition ist sehr kreativ mit einer extrem schwierigen Lage umgegangen." Noch besser wäre es zwar gewesen, wenn die Regierung es ermöglicht hätte, Cannabis in lizenzierten Fachgeschäften anzubieten. Das hätte den Schwarzmarkt noch mehr geschwächt, glaubt die Historikerin.
Dennoch findet Barop: "Die Lösung, zu der man gekommen ist, funktioniert besser als zunächst erwartet." Soll heißen: "Der Eigenanbau floriert, und Experten schätzen, dass bereits über ein Drittel des in Deutschland konsumierten Cannabis selbst angebaut wird."
Besser Bio und vom eigenen Balkon als vom Schwarzmarkt
Das sei gut: "Es schwächt die Organisierte Kriminalität und schützt die Konsumierenden, denn regional und bio vom eigenen Balkon ist deutlich weniger gefährlich als die verunreinigten Schwarzmarktprodukte."
Die Wissenschaftlerin bewertet grundsätzlich auch die öffentliche Diskussion über Cannabis und den Umgang damit als positiv.
Söder garantiert striktes Durchgreifen in Sachen Cannabis
In der bayerischen Politik ist man darüber nicht so erfreut. So sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schon im Februar: "Wer mit dem Thema Cannabis glücklicher werden will, der ist woanders besser aufgehoben als in Bayern. Das werden wir garantieren."

Bisher wurde keine einzige Genehmigung für einen Cannabis-Club im Freistaat ausgestellt, zudem wurden Bereiche wie Biergärten und Volksfeste ausgewiesen, an denen Kiffen untersagt ist.
Wenn es aktuell im Wahlkampf nach der Union ginge, sollte das Ampel-Projekt sogar rückabgewickelt werden.
Konservative machten häufig Stimmung mit "Angstkampagnen"
Wie bewertet Barop Bayerns konservative Rolle? "Die bayerische Position in der Drogenpolitik ist leider eine populistische." Die Historikerin führt aus: "Sie kommt mir nach meiner jahrelangen Beschäftigung mit der Geschichte der Drogenpolitik sehr bekannt vor: Konservative Parteien machen häufig Stimmung mit Angstkampagnen und versprechen Law and Order."

Nicht ohne Erfolg, wie sie erklärt: "Sie richten sich an Menschen, die selbst nicht betroffen sind und eine diffuse Angst vor Drogen haben. Diese Art der politischen Kommunikation ist leider oft effektiv." Denn: Wer Angst habe, "wählt gern jemanden, der verspricht, aufzuräumen".
Aber diese Art der Angstmache geschehe auf dem Rücken der Betroffenen. "Diejenigen, die wirklich Hilfe brauchen, werden noch mehr stigmatisiert und für ihr Elend beschuldigt." Barop kritisiert weiter: "Bayern hat zum Beispiel bis heute keinen einzigen Drogenkonsumraum. Doch solche Räume retten Menschenleben. Sie sind legal und sie werden auch in Bayern gebraucht. Das ist unterlassene Hilfeleistung."
So sieht es das Innenministerium im Freistaat
Die AZ hat auch das Bayerische Innenministerium um eine Bilanz gebeten. Wie viele Straftaten gegen das Cannabis-Gesetz hat es seit 1. April im Freistaat gegeben? Die Daten beziehen sich nur auf die bei der bayerischen Polizei erfassten Vorgänge.
Demnach gab es zwischen 1. April und 30. November insgesamt 6340 erfasste Verstöße nach dem Konsumcannabisgesetz (KCanG). Davon waren 5278 Straftaten und 1062 Ordnungswidrigkeiten. Am häufigsten betraf es den Cannabis-Handel – rund 1500 Verstöße.
Im Straßenverkehr (1. April bis 31. Oktober) wurden 731 Verkehrsstraftaten und 8218 -ordnungswidrigkeiten wegen Cannabis verzeichnet.
Das Innenministerium will keinen Vergleich zu vor der Teillegalisierung ziehen. "Aufgrund der umfassenden Rechtsänderungen mit Inkrafttreten des KCanG ist eine valide und aussagekräftige Vergleichbarkeit zu den Vorjahren nicht möglich", teilt ein Sprecher mit.
Polizei setzt jetzt auch auf verdeckte Observationen
Im Vorfeld wurde auch ein Mehraufwand für Strafverfolgungs- und Ordnungsbehörden befürchtet. Hat sich das bewahrheitet? Aus dem Innenministerium heißt es: "Für die Bayerische Polizei ist es, gerade mit Blick auf den Handel mit Cannabis, schwieriger geworden, Verstöße nachzuweisen."
Angesichts der Menge, die man nun legal besitzen darf, seien "weitere polizeiliche Maßnahmen notwendig, um ein strafbewehrtes Verhalten beweiskräftig belegen zu können". Etwa verdeckte Observationen. Der Aufwand sei dadurch deutlich gestiegen. "Das KCanG ist und bleibt an vielen Stellen unscharf und verlagert viele Problemstellungen in die Vollzugspraxis."
Mehr zur Arbeit von Helena Barop: "Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute"; Siedler, 26 Euro
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