Herr, erhöre unser Lallen!

Blockflöten und Wham: Das Fest der Liebe ist vor allem ein Angriff auf die Ohren. Auch die Klassik lässt sich in Nürnberg nicht den Mund verbinden.
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So süß und so stumm: Diese Steiff-Bläser in der Weihnachts-Kinderdeko eines Kaufhauses belästigen niemanden.
Petra Schramek So süß und so stumm: Diese Steiff-Bläser in der Weihnachts-Kinderdeko eines Kaufhauses belästigen niemanden.

Blockflöten und Wham: Das Fest der Liebe ist vor allem ein Angriff auf die Ohren. Auch die Klassik lässt sich in Nürnberg nicht den Mund verbinden.

Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!“ Wie beim Münchner im Himmel wird derzeit wieder allerorten saisonbedingt geträllert – in der Hoffnung, dass es an Heiligabend in irgendeiner Form Manna regne. Alle Jahre wieder stimmen wir armen Menschenkinder in der Adventszeit all die schönen Gesänge an, um die schnöden Monate, in denen der Konsumterror nicht im Zeichen des Christkindes stand, zu vergessen. Und überall, in den Kaufhäusern, den Weihnachtsmärkten und U-Bahnhöfen rieseln dieselben Klangfetzen wie Kunstschnee durch die glühweingeschwängerte Luft: „Kommet ihr Hirten... der Hörsturz, äh, der Heiland ist nah!“

Aber es kann noch schlimmer kommen: Die geschmetterte „Silent Night, Holy Night“, Whams kaminkuschelige Trommelfell-Attacke „Last Christmas“ oder Bonos Klageschrei in „Do They Know It’s Christmas“ (Band Aid) als akustische Santa-Clausisierung des globalen Klangraums. Die Geschichte des modernen Weihnachts-Schlagers begann 1942, als Bing Crosby Irving Berlins „White Christmas“ im Studio aufnahm. Die Originalaufnahme ist mit mehr als 35 Millionen Stück eine der meistverkauften Singles aller Zeiten. Bis heute ging der Titel angeblich weltweit über 125 Millionen Mal über die Theke. Darüber hinaus wurde „White Christmas“ von anderen Interpreten um die 500 Mal neu aufgenommen – so wie sonst nur „Yesterday“.

Bing Crosbys Welt-Bestseller

Der Traum der weißen Weihnacht ist in den USA neben „Jingle Bells“ noch immer das mit Abstand populärste Dezemberlied. Vor allem öffnete der Erfolg von „White Christmas“ die Türen zur völligen akustischen Kommerzialisierung der Adventszeit: Was verbindet Heino mit Melissa Etheridge, James Last und Bon Jovi, die Beach Boys mit Götz Alsmann? Alle haben ein Weihnachtsalbum herausgebracht – wie tausende andere Künstler auch. Dass sich die meisten aus dem Topf der immergleichen Lieder bedienen, macht den Angriff auf die Ohren nicht erträglicher. Die Internetseite Christmasreview.com listet pflichtschuldigst jährlich hunderte von „Weihnachtsneuerscheinungen“ auf. Die kühl kalkulierte Produktion der Jahresendgefühlswelt ist ein dicker Wirtschaftsfaktor. Selbst im Popmusik-Zentrum der westlichen Welt, in England, soll das Geschäft mit Weihnachtsplatten fast ein Drittel des Jahresumsatzes bringen.

Aber man sollte sich von all dem unheiligen Christmas-Pop nicht den Spaß an der Sache verderben lassen: Das Singen von Weihnachtsliedern ist gemeinschaftsstiftend – ob bei der morgendlichen Blockflötenattacke im Kindergarten oder bei der Adventsfeier im Büro. Und wenn an Heiligabend in der Mitternachtsmette hunderte ungeübter Stimmen bei „O du Fröhliche“ so inbrünstig wie schräg ihr Bestes geben, erzeugt diese Fülle des Wohlmeinens sogar bei hartgesottenen Weihnachts-Hassern Gänsehaut.

Nürnbergs vielstimmiges Weihnachtslob

Seit 35 Jahren setzt Konzertimpresario Georg Hörtnagel mit alpenländischer Stubenmusik einen Romantikkontrast bei Kerzenschein im Rittersaal der Kaiserburg: Samstag, 13. Dezember, (17/20.30 Uhr) mit Stubenmusik und Alphornbläsern. Und die Regensburger Domspatzen verbreiten Glockengesang in der Meistersingerhalle (22.12.). Die klassische Muse lässt sich nicht den Mund verbinden. Bei den Nürnberger Symphonikern, die auch den Historischen Rathaussaal mit Händel und Barock-Trompete (17./18.12.) beschallen, sind es die Limburger Domsingknaben,die dreifach in der Meistersingerhalle (Samstag, 20 Uhr, Sonntag, 11 und 16.30 Uhr) eingreifen. Matthias Ank und der Lorenzer Bachchor nehmen sich Hector Berlioz’ Oratorium „L’Enfance du Christ“ vor (13.12., 18 Uhr). Im Opernhaus wird Puccinis „La Bohème“ eingemeindet, weil dort Schnee fällt und das Kaminfeuer brennt (wieder am 2. Weihnachtsfeiertag) .

Über allem aber schwebt das „Weihnachtsoratorium“, in dem Bach weltliche Huldigungsmusiken für die Ewigkeit verwurstete. Die Sebalder Kantorei und das Nürnberger Bach-Orchester bedienen diese Tradition (21. 12.) Irgendwie war aber auch schon Bach zu seiner Zeit vom Jauchzen und Frohlocken genervt. Denn die dritte Kantate beginnt mit den prophetischen Worten „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen, lass’ dir die matten Gesänge gefallen!“

Vielleicht also doch auf den „musikalischen Jahresrückblick“ der Symphoniker (26. Dezember, Meistersingerhalle) warten: Bernstein, Strauß und Haydn umspielen dabei die ironische Moderation von Herbert Feuerstein.rri, vi, daer, RBR

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