Heinrich Bedford-Strohm: Was, wenn Schutz Gewalt fordert?

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Frieden ist ein Sehnsuchtswort. Das gilt für alle Menschen guten Willens. Aber es gilt ganz bestimmt für die jüdisch-christliche Tradition. Frieden und Gerechtigkeit "küssen sich" - sagt der 85. Psalm. Das Wort "Frieden" steht in einem ganz umfassenden Sinne für das gute und heilvolle Leben in der Gottesbeziehung. "Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen", - so heißt es im Buch des Propheten Jesaja (54,10) - "aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer." Das hebräische Wort Schalom steht für dieses umfassende Heilsein. Auch im Neuen Testament spielt der Friede eine zentrale Rolle. Das geht so weit, dass Christus sogar mit dem Frieden identifiziert wird. "Christus ist unser Friede" - heißt es im Epheserbrief (2,14).
Die Kirche muss Antworten finden auf neue Fragen
Die Passagen aus der Bergpredigt, in denen Jesus über Gewaltfreiheit und Feindesliebe spricht, gehören zu den berühmtesten Passagen der Bibel: "Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen… Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Matthäus 5,44f).
Diese Worte haben auch viele Menschen jenseits religiöser Grenzen inspiriert und sind ein Stück Weltliteratur geworden. Mit guten Gründen wurden sie auch immer wieder zitiert, als in den 80er Jahren Millionen Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland zu demonstrieren. Viele junge Menschen - gerade mit kirchlichem Hintergrund - nahmen prägende Erfahrungen für ihr Leben aus der großen Friedensbewegung mit, die sich damals bildete.
Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Neue Fragestellungen sind entstanden, die damals noch gar nicht absehbar waren, etwa die Frage des Einsatzes von unbemannten Drohnen in der Kriegsführung oder der Umgang mit neu entwickelten autonomen Waffensystemen, die auf der Basis von Algorithmen ihre zerstörerische Gewalt entfalten. Und natürlich hat sich die geopolitische Landschaft grundlegend verändert. An die Stelle des Ost-West-Konfliktes und dem damit verbundenen "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen zwei atomar hochgerüsteten Blöcken ist eine unübersichtliche Lage getreten, in der es eine Vielzahl von bewaffneten Konflikten zwischen Staaten, aber auch "privatisierte Gewalt" durch terroristische Milizen gibt.
Gewalt ist immer eine Niederlage
Die Kirchen sind sich einig, dass Konflikte mit militärischer Gewalt so gut wie nie gelöst werden können. Im Gegenteil: Gewalt ist immer eine Niederlage, - eine Niederlage für das Bemühen, Konflikte gewaltfrei zu lösen. Gewaltfreiheit, das ist die Vorgabe, die wir von Jesus in der Bergpredigt bekommen haben.
Konflikte müssen durch zivile Mittel, durch Diplomatie, durch Überwindung der weltweiten Armut, durch einen restriktiven Umgang mit Waffenexporten gelöst werden, darin sind wir uns einig in der Kirche.
Einig sind wir uns auch in der Kritik an den Unsummen, die derzeit für die Rüstung ausgegeben werden. Die weltweiten Militärausgaben haben im Jahr 2017 die irrsinnige Höhe von rund 1,9 Billionen US-Dollar erreicht. Die USA kommen auf rund 732 Milliarden US-Dollar. China kommt auf 261 Mrd., Russland auf 65,1 Mrd. und Deutschland auf 49,3 Mrd. In einer Welt, in der noch immer 20 000 Menschen jeden Tag sterben, weil sie nicht genug Nahrung oder Medizin haben, ist das ein Skandal. Wir brauchen nicht mehr Geld für Waffen, sondern endlich einen großen Wurf zur Finanzierung einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung!
Auch Christen können militärische Gewalt nicht kategorisch ausschließen
Eine Analyse der Kriege der letzten dreißig Jahre belegt, dass wir die Möglichkeiten militärischer Gewalt meistens überschätzen. Die militärischen Operationen haben, so muss man feststellen, in der Regel nicht zu den angestrebten Zielen der Befriedung geführt. Gerade im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz hat sich die Skepsis leider bestätigt, dass die angestrebten Ziele mit militärischer Gewalt zu erreichen sein würden.
Trotzdem: Auch Christen können die Anwendung militärischer Gewalt nicht einfach kategorisch ausschließen. Beim Massaker von Srebrenica ermordeten bosnisch-serbische Milizen im Juli 1995 8.000 muslimische Männer und Jungen. Niederländische UN-Blauhelmtruppen schauten tatenlos zu. Beim Völkermord in Ruanda 1994 wurden in 100 Tagen 800.000 Menschen mit Macheten ermordet, ohne dass die anwesenden UNO-Blauhelmsoldaten eingreifen durften.
In Syrien und im Nordirak errichteten IS-Milizen eine Schreckensherrschaft, von der uns verstörende Berichte von Enthauptungen und systematischer sexueller Versklavung unzähliger Frauen erreichten. Dieser Schrecken wurde nicht verborgen, sondern mit Hilfe des Internets erstmals planmäßig in grauenhaften Videos verbreitet. Er konnte nur mit Mitteln militärischer Gewalt beendet werden, besonders im Fall der Befreiung von Mossul allerdings mit wiederum vielen Opfern.
Wie umgehen mit terroristischer Gewalt?
Diese Erfahrungen mit völkermörderischer Gewalt führen für mich zu dem Schluss, dass es eine moralische Pflicht gibt, das durch Gewalt und Terror verursachte Leid wirksam zu verhindern und dass dabei auch militärische Mittel nicht ausgeschlossen werden können. Es gibt Situationen, in denen die Ablehnung militärischer Gewalt ebenso ethisch ebenso fragwürdig ist wie deren Bejahung. Es ist bemerkenswert, dass auch der Weltkirchenrat, in dem traditionell pazifistische Positionen ein großes Gewicht haben, anerkennt, dass es Situationen gibt, in denen zum Schutz von bedrohten Menschen auch militärische Mittel legitim oder gar moralisch gefordert sein können.
Im Jahr 2004 saß ich mit Menschen aus aller Welt anlässlich des 10-jährigen Gedenkens an den Völkermord in Kigali, der Hauptstadt von Ruanda, zusammen. Trotz der unmittelbaren Konfrontation mit den noch immer offenen Wunden dieses dortigen Völkermords fiel es den versammelten Kirchenvertretern sehr schwer, als Lernerfahrung für die Zukunft auch militärische Schutzoptionen anzuerkennen.
Heute hat sich die Erkenntnis immer mehr verbreitert, dass es Extremsituationen geben kann, in denen die Anwendung von Gewalt zum Schutz von Menschen als letzter Ausweg und kleineres Übel nicht zu vermeiden ist. Es darf einfach nie wieder passieren, dass Menschen solch schlimmen Gewalttaten ausgeliefert sind, ohne dass ihnen irgendjemand wirksam zu Hilfe kommt. Wir alle sind dankbar, dass wir die Polizei rufen können, wenn wir bedroht werden. Wie kann das polizeiliche Handeln auf nationaler Ebene auf die internationale Ebene übertragen werden kann? - so lautet die Frage.
Über das Erreichen des Friedens muss gestritten werden
Gerechter Friede bleibt das Ziel. Wie er politisch am besten erreichbar ist, darüber muss gestritten werden. Und wie wir den Frieden in unseren Alltagsbeziehungen leben können, ist eine tägliche Aufgabe für uns alle - in den Familien, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Das Gebot der Nächstenliebe, das Jesus untrennbar mit der Gottesliebe verbunden hat, ist dabei zentral.
Jesus gibt uns dafür eine wichtige Regel mit auf den Weg, die deswegen auch die "Goldene Regel" genannt wird: "Alles, was Ihr wollt, dass Euch die Leute tun sollen das tut ihnen auch" (Matthäus 7.12). Manche kennen diese Regel auch als Sprichwort: "Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu." Fühle Dich in den anderen ein und behandle ihn so, wie Du auch behandelt werden möchtest! Das ist eigentlich nicht zu viel verlangt.
Letztlich können wir den Frieden nicht selbst machen. Er wird uns geschenkt. Wir hoffen auf ihn. Wir ersehnen ihn. Wir bitten Gott um ihn. Deswegen stehen am Ende einer jeden Predigt, die ich halte, diese Worte aus dem Philipperbrief (4,7): "Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus".