Grünwald: Die Wahrheit über den Mythos

Es ist ihm fast peinlich, wenn Bürgermeister Jan Neusiedl die Zahl nennt: Mehr als 60 Millionen Euro Überschuss hat seine Gemeinde 2006 erwirtschaftet. Warum sich das "Luxusdorf" 100 Euro Kinderprämie leistet. . .
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Der Grünwalder Rathausplatz
az Der Grünwalder Rathausplatz

Es ist ihm fast peinlich, wenn Bürgermeister Jan Neusiedl die Zahl nennt: Mehr als 60 Millionen Euro Überschuss hat seine Gemeinde 2006 erwirtschaftet. Warum sich das "Luxusdorf" 100 Euro Kinderprämie leistet. . .

Von Michael Grill
Die junge Frau vor dem Supermarkt am Rathausplatz ist freundlich, aber zurückhaltend. Ihren Namen möchte sie nicht sagen, wir sollen sie Eva nennen. Und: "Bitte auf dem Foto mein Kind nur von hinten zeigen." Wer hier wohnt, ist meistens vorsichtig wenn es darum geht, mit Privatem im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Aber was hält sie denn nun von der noblen Aktion ihrer Gemeinde, Eltern für jedes Kind von der Geburt bis zur Einschulung 100 Euro zu zahlen, was sich wohl kaum eine andere Kommune im ganzen Land leisten könnte? – "Das ist eine gute Sache, wenn die Bedürftigen unterstützt werden", sagt Eva mit einem charmanten Grünwalder Lady-Lächeln, "aber denen, die genug haben, muss man nicht unbedingt noch mehr geben". Dann geht sie.

Grünwald im Kreis München – ein Mythos von Reichtum, Wohlstand und Luxus. Seit jeher lassen sich die Reichen und Schönen, mit denen München ohnehin überreichlich gesegnet ist, besonders gerne im Isartal nieder. Sozusagen im Schatten der alten Burg, von der es in dem Lied von den "Alten Rittersleut" heißt "Gsuff’n ham’s und des net wia / Aus de Eimer Wein und Bier".

"Aggro Grünwald" - wie denn sonst?

Das ist nun heute nicht mehr unbedingt der Stil beim Publikum in den Edel-Italienern "Villa Romana" und "Eboli, aber die Neigung zum Völlen und Prassen wird den Grünwaldern mit großer Hartnäckigkeit nachgesagt, was einige von ihnen geradezu aufzustacheln scheint, das Vorurteil immer wieder zu bestätigen. Und als sich im letzten Jahr eine Gruppe junger Münchner Rapper aufmachte, eine radikale, snobistische Persiflage auf die proletarische Berliner Hiphop-Szene zu kreieren, da nannten sie sich: "Aggro Grünwald" - wie denn sonst?

Seit gestern rätselt wieder einmal die Republik, was das den für ein Dorf sei, dieses Grünwald. Die AZ berichtete über über das Extra-Erziehungsgeld für die jungen Grünwalder Familien, das vom Rathaus gegen erheblichenWiderstand übergeordneter Behörden durchgeboxt worden war. "Es soll ein Signal sein", sagt der junge CSU-Bürgermeister Jan Neusiedl mit der AZ-Schlagzeile in der Hand, "auch wenn wir hier keine Politik für ganz Deutschland machen". Es gebe aber auch in seiner Gemeinde "eine ganz breite Bevölkerungsschicht von Normalverdienern. Und die hätten unter den hohen Grünwalder Lebenshaltungskosten stark zu leiden: "Es soll eine Ergänzung sein, gerade für junge Familien."

Einfache Erklärung für den Wohlstand

Bevor Neusiedl die Babys entdeckte, dachte er über einen selbstfinanzierten Autotunnel unter der Gemeinde nach, auch ein Gymnasium würde man gerne bauen. Das Geheimnis, woher der Wohlstand kommt, lässt sich so enträtseln: Die Sozialausgaben, zu denen Grünwald verpflichtet ist, sind wegen des überdurchschnittlichen Wohlstands seiner Bürger extrem gering, während gleichzeitig einige extrem potente Gewerbesteuerzahler Geld in die Kasse bringen: Bavaria Film, RTL2, Montana, KGL, Commerzbank Leasing – um nur einige zu nennen. "Wir machen eine sehr gute Finanzund Steuerpolitik", lächelt Neusiedl, der im März bei den Kommunalwahlen wiedergewählt werden möchte.

"Und was bleibt wirklich übrig für die Rücklage, Herr Neusiedl?" Es scheint ihm fast peinlich zu sein, dann nennt er die Zahl: 61 Millionen Euro waren es 2006, für 2007, der Abschluss steht noch aus, dürfte es ähnlich aussehen. Grünwalder Zahlen, da schnauft man erst mal durch. Wer von München kommend die Gemeinde passiert, sieht nicht besonders viel außer langen hohen Mauern, einem McDonalds, drei Tankstellen und einer meist zugestauten Kreuzung namens Marktplatz.
Mit den Klischeebildern von Grünwald ist das so eine Sache. Einerseits treffen sie die Wahrheit erstaunlich genau. Dazu genügt etwa ein Blick in so manche stille Seitenstraße, an denen riesige, oft geradezu monsterhafte Villen erreichtet werden. Oder: Als neulich vor der Schule ein Auto angeschrammt wurde, stellte die Polizei fest, dass der flüchtige Unfallverursacher in einem Porsche Cayenne gesessen habe. Man fand ihn trotzdem nicht – es gibt zu viele Porsche Cayennes in Grünwald.

Andererseits gibt es unter den 11000 Grünwalder Bürgern einen sehr großen Teil, der sich regelmäßig ärgern muss über das Image vom Luxusdorf mit den goldenen Straßen – weil das überhaupt nicht ihre Welt ist. In Grünwald gibt es auch sehr gewöhnliche Mietblocks, eine Baugenossenschaft und so manches kleine Häuschen, das von seinen Mietern nur mit Müh’ und Not noch zusammengehalten wird. Die freuen sich dann sehr, wenn die Gemeinde mit Taxigutscheinen die fehlende Nachttram ersetzt, die alte Sportschule zum großzügigen öffentlichen Freizeitpark ausbaut – oder eben 100 Euro für die Kinder beisteuert. "Die Aktion der Gemeinde ist total klasse", meint etwa Sabine Dalmeier, die gerade Lena (5) vom Kindergarten abholt: "Wir sind Normalverdiener mit Beamtengehalt – da kommen wir gerade mal so über die Runden."

Herr und Frau Ochsenknecht als Elternsprecher

Leidet denn die Gemeinde unter ihrem Image? Bürgermeister Neusiedl will es nicht Leiden nennen, es gebe da "nunmal diese Klischees, die aber von einigen auch immer wieder bedient werden". Der große Riss zwischen Außendarstellung und dem oft sehr ernüchternd normalen Dorfleben bleibt ein Grünwalder Problem – buchstäblich ein Luxus-Problem. Schließlich kann sich der Grünwalder Normalbürger die Promi-Dichte auch zunutze machen. Als vor Jahren um Konzepte für den Kindergarten gestritten wurde, waren sich die Eltern schnell einig, wie man Gehör bei der Gemeinde finden kann, nämlich mit Herrn und Frau Ochsenknecht als Elternsprecher. So war man auch mal froh über die Promis.

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