Grete Schickedanz: Tod in den Armen ihrer Tochter
Im Unternehmen reißen die Schicksalsschläge nicht ab. Leipzig ist besser als Nürnberg: Quelle baut das neue Versandzentrum im Osten.
NÜRNBERG/FÜRTH „Kein Wachstum“, doziert der einstige Quelle-Konzernchef Hans Dedi das kleine Wirtschafts-Einmaleins, „ist Stillstand, und Stillstand ist Rückschritt.“ „Aber“, fährt er dann fort, „ich weiß das schon auch – wenn ein Unternehmen wächst, dann auf Kosten anderer. Das führt oft zu einem erbitterten Verdrängungswettbewerb. Ob man will oder nicht, ob man das für moralisch richtig hält oder nicht. So ist es. Wir sind zum Wachstum gezwungen.“
Der bekennende Badener und passionierte Jäger, der das Versandhaus seiner Schwiegereltern über drei Jahrzehnte mitgeprägt hat, ist schon lange im Ruhestand. Ins Firmengeschehen, sagte er 2002, greife er seit Jahren nicht mehr ein. 1977 nach dem Tod des Firmengründers, seines Schwiegervaters, übernahmen Hans Dedi und die Witwe Grete Schickedanz den ins fast schon nicht mehr so recht Fassbare gewachsenen Konzern. Und die Quelle hält sich an das Unternehmer-Credo, sie wächst immer noch weiter.
Doch Anfang der achtziger Jahre schlägt die Finanzabteilung Alarm – der Handel in Deutschland geht auf Talfahrt, auch in Fürth – der Umsatz geht 1981 fast um fünf Prozent zurück. Die Porto-Erhöhung der Bundespost, dem Alleinversender der Quelle, reißt zusätzlich ein Loch von 40 Millionen Mark in den Etat. Dazu kommen familiäre Spannungen. Das Verhältnis zwischen Hans Dedi und seinem Schwager Dr. Wolfgang Bühler gilt nicht gerade als herzlich.
Bühler, promovierter Jurist und Sohn des AEG-Chefs Hans Bühler, wurde 1973 Madeleine Schickedanz’ zweiter Ehemann. 1976 wechselte der neue Schickedanz-Schwiegersohn von der AEG zur Quelle. 1983 gehen die Umsätze weiter zurück, die Schickedanz-Unternehmen Vereinigte Papierwerke, Möbel-Hess und Patrizier-Bräu schreiben rote Zahlen. Hans Dedi und Grete Schickedanz holen den Firmen-Sanierer McKinsey ins Haus. Leiter des Rationalisierungs-Trupps ist ein gewisser Klaus Zumwinkel.
Die erste Sanierung trifft die Mitarbeiter. In dem für seine soziale Verantwortung bislang so gerühmten Konzern kommt es zu Massenentlassungen, bei den Vereinigten Papierwerken müssen 800 Mitarbeiter gehen. In den zwei Jahren 1984 und 1985 macht die Quelle einen Verlust von rund 50 Millionen Mark.
Lothar Schmechtig schreibt mit seiner jahrelang florierenden Foto-Quelle zehn Millionen Miese. Er verlässt den Konzern „aus Gesundheitsgründen“ und geht in den Ruhestand. Den einst so umtriebigen und erfolgreichen Manager quälten damals aber ganz andere Sorgen: Am 14. August 1981 hatten ein Mann und eine Frau seine Ehefrau in der Villa an der Ludwigshöhe überfallen – und Ingeborg Schmechtig bei dem Entführungsversuch erschossen. Lothar Schmechtig starb im Februar 1992 im Alter von 69 Jahren.
Und die Schicksalschläge in der Chef-Etage der Quelle reißen nicht ab: 1984 bricht Vorstandsmitglied Herbert Bittlinger auf der Straße zusammen. Er hätte zusammen mit Hans Dedi den Konzern führen sollen – so hatte es Grete Schickedanz für ihren Rücktrittsplan vorgesehen. Doch dann entschied das Haus anders: Der damals 41-jährige Klaus Zumwinkel, Direktor des Quelle-Sanierers McKinsey, rückt in den Vorstand. Schon Fünf Jahre später schied der künftige Vorstands-Chef der Deutschen Post wieder von der Quelle. Sein Nachfolger: Herbert Bittlinger.
Kurz vor ihrem 75. Geburtstag musste die Quelle-Chefin selbst erfahren, dass zwölf Stunden Arbeit täglich, das Verkraften von Rückschlägen, das Leben ohne ihren Mann nicht ohne Folgen bleiben. Bei einer Spanienreise im September 1986 bricht sie zusammen – Herzinfarkt. Die Ärzte retten sie und empfehlen ihr dringend, deutlich langsamer zu treten. Ihre Antwort: „Ich weiß schon selber, was gesund für mich ist“ – und hält sich keineswegs an die befohlene Schonzeit.
Im November 1989 gibt es zwischen Deutschland Ost und Deutschland West keine Mauer mehr. Dank der kaufmännisch-diplomatischen Vorarbeiten durch Herbert Bittlinger hatte die Quelle im Osten längst den Fuß in der Tür. 1990 steht fest: Der Konzern lässt sich im Osten mit einem riesigen Versandzentrum nieder. Geschätzte Investition: eine Milliarde Mark. Ob in Magdeburg oder in Leipzig gebaut wird, ist noch nicht entschieden. Das will die rastlose Senior-Chefin selbst festlegen, mit ihrem Ost-Experten Herbert Bittlinger fährt sie nach Sachsen. „Wie sinnvoll das war, dass sie vor Ort gewesen ist“, erinnert sich Bittlinger, „das haben wir bald gemerkt. Sie hat halt ein Gespür.“ Und er erzählt die Geschichte, wie Grete Schickedanz vom Tower des kleinen Flughafens Leipzig-Mockau auf das Gelände geschaut und entschieden hat: „Ich will die rechte Hälfte.“
Bei den anschließenden Bodenuntersuchungen stellte sich heraus: Das Erdreich der rechten Hälfte war unbelastet, die linke Hälfte total verseucht. Die Entsorgung des vergifteten Bodens hätte Millionen gekostet. Hans Dedi: „Wir hatten unser neues Versandzentrum damals ja eigentlich in Nürnberg, an der Von-der-Tann-Straße bauen wollen. Aber die Stadt hat uns so viele Hindernisse in den Weg gelegt, da ist die Entscheidung für Leipzig leicht gefallen. Dort hat man uns sehr entgegenkommend behandelt.“
Grete Schickedanz erlebte die Einweihung in Leipzig nicht mehr. 1993 hatte sie alle Führungsposten niedergelegt. Der Kreislauf macht nicht mehr mit. Am 23. Juli 1994 hört das Herz der Grete Schickedanz auf zu schlagen. Sie stirbt im Alter von 82 Jahren in den Armen ihrer Tochter Madeleine. Am 28. Juli wird die „deutsche Vorzeigeunternehmerin“ nach einem Trauergottesdienst in der Fürther St. Paul-Kirche beigesetzt. Zwei Monate später stirbt Louise Dedi, ihre Stieftochter, die Ehefrau des einstigen Konzern-Chefs Hans Dedi.
„Rund 66 Jahre“, schreibt Quelle-Historiker Theo Reubel-Ciani in seinem Buch über die ungewöhnliche Unternehmerin, „war Grete Schickedanz für ihre Quelle tätig, so lange wie keine andere Frau in einem Unternehmen ähnlicher Größenordnung und Bedeutung. Kindergärtnerin hatte sie werden wollen, ein nicht erfüllter Wunsch, den sie im Lauf ihres Lebens mit hohem sozialen Engagement kompensierte.“
Madeleine Schickedanz sagte später über ihre Mutter: „Sie ist mit ihrer Verantwortung sehr würdevoll umgegangen. Es war ihr durchaus bewusst, was sie geleistet hat. Aber sie ging damit nicht protzen. Sie hatte eine unkomplizierte, fröhliche Art, jeder ist gern auf sie zugegangen. Sie hatte einen unglaublichen Charme.“
Über der zweiten Ehe der Madeleine Schickedanz liegen damals kurz nach dem Tod der Mutter schon erste Schatten. Zur Einweihung des Versandzentrums am 18. Mai 1995 – Ehrengast war Bundeskanzler Helmut Kohl – tritt sie zum letzten Mal mit ihrem Mann Wolfgang Bühler auf, kurz danach wird die Ehe geschieden. Sechs Jahre lang war Bühler als Nachfolger seines Schwagers Hans Dedi Konzern-Chef – im Herbst 1995 verabschiedet er sich mit 63 in den Ruhestand.
Von da an bis zur Elefantenhochzeit – der Fusion der Quelle mit dem Warenhaus-Konzern Karstadt – wechseln in Fürth die Vorstände schneller als sich die Mitarbeiter ihre Gesichter merken können. Der altgediente Nothelfer Herbert Bittlinger übernimmt noch einmal das Kommando, dann folgen Dr. Steffen Stremme, Willy Harrer, Reinhard Koep.