Gefangen im Zug nach Bayern – ein Pendler berichtet: "Gefahr für Leib und Leben"

Nürnberg/Stuttgart - Menschen dicht an dicht gedrängt. 40 Grad Hitze. Keine funktionierende Klimaanlage. Keine offenen Fenster. Und dann auch noch defekte Toiletten. Und das für fünf Stunden, berichtet der 53-jährige Martin M.
"Die Leute werden schlechter transportiert als in jedem Vieh- und Schweinetransport!", ärgert sich der AZ-Leser aus Nürnberg. Er war einer der Fahrgäste des Horrorzuges auf der Strecke zwischen seiner Heimatstadt und Stuttgart Mitte August.
Zug braucht acht Stunden von Stuttgart nach Nürnberg
Als Pendler seit über 20 Jahren ist er so einiges gewohnt. Aber diese Fahrt habe alles übertroffen, so M. im Gespräch mit der AZ. Und sie mündete laut ihm sogar in einer einwöchigen Krankschreibung. Um 14.57 Uhr fuhr der Zug in Stuttgart ab. Geplante Ankunft in Nürnberg: 17.20 Uhr. Die tatsächliche: 23.40 Uhr. Der Grund: ein Baum, der auf die Oberleitung krachte und so die Stromversorgung zum Zug unterbrach, wie auch eine Pressesprecherin des zuständigen Bahn-Unternehmens Go-Ahead auf Anfrage der AZ bestätigt.
"Der Zug zwischen Nürnberg und Stuttgart fährt durch mehrere bewaldete Gebiete. Die Bäume sind links und rechts von der Strecke sehr nah am Zug und nicht zurückgeschnitten", beschreibt der Pendler seine Stammzugstrecke. Dass bei der Hitze auch mal ein Baum auf die Gleise kracht, verwundere ihn nicht.
Mitten auf der Strecke harren die Fahrgäste im Zug in der Hitze aus
Um 15.30 Uhr sei also der Zug in der Nähe der Haltestelle Backnang zum Stehen gekommen. Eine Durchsage, die über den Baum aufklärt, und dann laut M. lange nichts. "Ich fühlte mich sehr schlecht informiert", sagt er. Durchsagen seien nur selten und unregelmäßig gekommen. Dann hieß es erst einmal, in der Hitze ausharren.
Die Fenster konnten bis auf einen kleinen Spalt nicht geöffnet werden. "Es war mehr oder weniger ein Kampf, wer sich da hinstellen darf", erinnert sich M., der bei der Erzählung ungläubig schmunzeln muss. Eine 70-Jährige hätte sich sogar hinlegen und behandelt werden müssen, sagt der 53-Jährige fassungslos. Das lange Stehen in der Hitze hätte sich wie eine Sauna angefühlt. Und die defekten WCs hätten die Situation weiter belastet. "Ich musste dringend auf die Toilette!"
Sonderbehandlung: Lediglich die Raucher dürfen den Zug verlassen
Den aufgeheizten Waggon durfte laut M. aber niemand verlassen. Fast niemand: "Die Raucher durften raus, aber immer nur zwei. Die haben sich links und rechts neben die geöffneten Türen hingestellt, und so ist der Rauch auch noch zu uns in den Waggon gezogen", so der Fahrgast. "Ich habe das sofort reklamiert, aber es hat sich nichts geändert."
Der Grund? "Angeblich zur Deeskalation." Andere Fahrgäste durften den Zug hingegen nicht verlassen, "weil die Stromleitung ja herunterfallen könnte. Aber die Raucher können davon nicht getroffen werden?" Eine Sprecherin von Go-Ahead gibt als Begründung zum Nicht-Öffnen der Türen ebenso die "Gefahr für Leib und Leben" an. Von einer Ausnahme, etwa für Raucher, ist keine Rede. Der Fall liege zu lange zurück, um solche Fragen im Nachhinein zu klären, heißt es.
Pendler beschreibt den Bahnbetrieb durch Go-Ahead als "unzuverlässig"
Als Pendler seit 20 Jahren ist es dem 53-Jährigen zufolge die letzten Monate besonders wild auf der Strecke zugegangen: "In den letzten zehn Wochen ist es mindestens zehn Mal vorgefallen, dass ein Zug ersatzlos ausgefallen ist."
Der Grund für die Verschlechterung der Strecke in seinen Augen: Go-Ahead Baden-Württemberg. "Seitdem die Bahn das nicht mehr betreibt, ist das nichts mehr auf der Strecke", ärgert sich der Pendler. Er hätte sogar so weit gehen müssen, seine Arbeitszeit wegen der vielen unzuverlässigen Fahrten zu verkürzen.
Auf eine Entschädigung von Go-Ahead Baden-Württemberg hatte M. bis vor wenigen Tagen gewartet. Er erhielt für die Fahrt eine Pauschale von 100 Euro in Form eines Gutscheins wenige Tage nach Beginn der AZ-Recherchen.
Seinen Erzählungen zufolge wurde ihm lange Zeit gar keine individuelle Antwort auf seine Beschwerde gegeben und Verantwortungsbingo gespielt: Keiner fühlte sich zuständig. "Eine absolute Katastrophe", sagt der Pendler. Rund zwei Monate nach dem Vorfall wollte er sich deswegen an die Öffentlichkeit wenden, damit seine Geschichte endlich gehört wird.