Fehlende Blutspenden in Bayern: "Es geht darum, den Notstand abzuwenden"

AZ: Herr Nohe, vor einigen Tagen hat der Blutspendedienst des BRK einen Hilferuf gesendet, weil die Zahl der Blutspenden drastisch unter der benötigten Menge liegt. Wie dramatisch ist die Lage jetzt?
PATRIC NOHE: Sie ist nach wie vor insofern dramatisch, als dass wir jetzt erst langsam beginnen können, unsere Puffer aufzufüllen. Der Hilferuf hat bewirkt, dass die Termine für die kommenden Tage erstmal ausgelastet sind. Gleichwohl blicken wir mit großer Sorge auf den Sommer, denn eine Verringerung des Bedarfs ist momentan nicht in Sicht.
"Blutkonserven sind nur 42 Tage lang haltbar"
Warum gibt es jetzt einen so hohen Bedarf an Blut?
Der Grund, warum ein erhöhter Bedarf besteht, sind die wegen der Pandemie verschobenen Operationen. Ein hoher Bedarf an Blutspenden besteht aber grundsätzlich. Das meiste Blut benötigen wir für chronisch kranke Menschen. Gleichzeitig haben wir das Problem, dass Blutkonserven nur 42 Tage haltbar sind. Deswegen ist es so wichtig, dass wir Kontinuität in die Spenden bringen. Daher auch meine Bitte: Wenn die Menschen sagen, ich möchte morgen oder übermorgen spenden, und sehen, dass die Termine zum Beispiel in München ausreserviert sind, dann: den nächsten verfügbaren nehmen. Wir brauchen auch in vier, in sechs und in acht Wochen noch Blut.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich derzeit keine Blutspende bekomme, wenn ich eine benötige?
Die geht gegen Null, die Notversorgung ist gewährleistet. Und in den kommenden Tagen sieht es ein bisschen nach Besserung aus. Wir sind aber sehr vorsichtig, denn Reservierungen sind noch keine Spende. Wir hatten zuletzt auch immer wieder mit No-Shows zu kämpfen, also mit Terminen, die angemeldet wurden, bei denen die Leute aber doch nicht erschienen sind. Das kann immer mal wieder passieren, meine Bitte ist nur, dann den Termin abzusagen. Wir haben keinen akuten Notstand, aber es geht nach wie vor darum, einen akuten Notstand abzuwenden.
"Wir haben einfach wieder mehr Konkurrenz"
Spenden die Menschen heuer besonders wenig Blut?
Wir haben im Sommer immer mit einem Rückgang zu kämpfen, aber dieses Jahr ist es schon besonders. Wir erleben den ersten Sommer mit nahezu keinen Corona-Maßnahmen. Der Hunger der Leute, das auszukosten, ist sehr groß - verständlicherweise. Die Reisesaison hat früher begonnen, die Hotels sind für den Sommer komplett ausreserviert, Festivals, Volksfeste finden wieder statt. Wir haben einfach wieder mehr Konkurrenz.
War das während der Pandemie anders?
Wir hatten auf dem Höhepunkt der Pandemie nie Probleme, ausreichend Spenderinnen und Spender zu finden. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die Menschen jetzt wieder einen ganz anderen Alltag haben und mehr Verpflichtungen. Wir sind die Letzten, die irgendjemandem einen Vorwurf machen. Wichtig ist jetzt nur, dass wir wieder einen Mix hinkriegen und sagen: Es ist super, dass ihr auf Festivals geht, es ist super, dass ihr in den Urlaub fahrt, aber wir müssen gucken, dass wir Slots finden, in denen Zeit für die Blutspende ist.
"Für uns stehen Schutz von Spendern und Empfängern an oberster Stelle"
Einerseits möchten Sie mehr Spender gewinnen, andererseits gibt es aber immer noch Menschen, die kein Blut spenden dürfen. Bis 2021 durften homo- und bisexuelle Männer nur spenden, wenn sie ein Jahr enthaltsam gelebt haben. Inzwischen wurde die Frist für "sexuelles Risikoverhalten" auf vier Monate verkürzt. Die Diskriminierung bleibt, sagt etwa die Deutsche Aidshilfe. Wie stehen Sie dazu?
Die zwölf Monate waren natürlich ein Stück weit lebensfremd. Wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu führen, dass mehr Menschen Blut spenden dürfen, dann ist das absolut begrüßenswert. Für uns als Bayerisches Rotes Kreuz und als Blutspendedienst spielt es überhaupt keine Rolle, woher ein Mensch kommt oder wen er liebt. Aber: Für uns steht der Schutz der Spenderinnen und Spender, aber auch der oftmals schwerkranken Empfängerinnen und Empfänger an oberster Stelle. Und dazu sind wir auf die Regularien der Bundesärztekammer und wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen.
Durch was wird diese Regelung, nach der Männer, die Sex mit Männern haben, binnen vier Monaten keinen neuen Sexualpartner haben dürfen, denn begründet?
Wir testen unsere Blutkonserven ausgiebig, allerdings gibt es ein sogenanntes diagnostisches Fenster, in dem nach einer frischen Infektion weder das Virus noch die Antikörper ausreichend vorhanden sind, um nachgewiesen zu werden. In der HIV-Neuinfektionsstatistik des Robert-Koch-Instituts fallen zwischen 60 und 70 Prozent aller HIV-Neuinfektionen in die Gruppe MSN, also Männer, die Sex mit Männern haben. Und diese Gruppe hat demnach einen Gesamtanteil in der Bevölkerung von circa drei bis fünf Prozent. Deswegen kommt die Studie zu dem Schluss, dass das Risiko innerhalb dieser Gruppe um einiges höher ist als in anderen Gruppen. Lesbische Frauen hingegen sind völlig ausgenommen davon und dürfen sogar mehr Partnerinnen haben als heterosexuelle Menschen. Heterosexuelle dürfen in den vergangenen vier Monaten nicht mehr als zwei gehabt haben.
"Für heterosexuelle Personen mit mehreren Sexualpartnern gilt das Gleiche"
Die Statistik sagt über das einzelne Verhalten aber wenig aus. Können Sie verstehen, das sich Menschen davon diskriminiert fühlen?
Ich verstehe absolut, dass sich Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen. Deswegen finde ich es auch wichtig, dass man diese Debatte immer wieder führt. Und die jetzigen Lockerungen zeigen ja auch, dass die Regelungen immer wieder auf den Prüfstand müssen. Mein Problem ist, dass diese Debatte im Moment sehr politisch geführt wird.
Wie sollte sie denn sonst geführt werden?
Ich glaube, sie sollte wieder mehr wissenschaftlich-medizinisch geführt werden. Im Moment kommen wir um die Statistik einfach nicht drumrum. Das gilt für heterosexuelle Menschen genauso, die sagen, ich hatte aber drei Partnerinnen oder Partner und will trotzdem Blut spenden. Dann muss ich auch sagen: Das geht nicht. Wichtig ist, dass wir das nicht willkürlich machen. Wirklich ein Problem haben wir ab dem Zeitpunkt, an dem die Leute sagen, weil diese Regelung so ist, gehe ich nicht Blut spenden - aus Solidarität.
"Mit ein- bis zweimal Spenden pro Jahr wäre schon viel geholfen"
Wieso?
Weil ich damit den anderen Leuten, unter denen ja genauso queere Personen sein können, die Blutpräparate brauchen, die Solidarität abspreche. Die können aber überhaupt nichts dafür. Am Ende müssen über die Frage, wie es weitergeht, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheiden.
Zurück zu jenen, die spenden dürfen: Wie häufig müsste gespendet werden, um auf einen grünen Zweig zu kommen?
Frauen dürfen viermal innerhalb von zwölf Monaten spenden, Männer sechsmal. Das ist schon sehr viel. Für den Anfang würde es reichen, zu sagen, ich gehe einmal oder zweimal im Jahr zur Blutspende. Dann wäre schon viel erreicht.