FDP-Spitzenkandidat Martin Hagen im Interview: CSU ist außer Rand und Band

FDP-Spitzenkandidat Martin Hagen kritisiert die Christsozialen wegen ihres Verhaltens im Asylstreit massiv - und er erklärt, warum seine Partei für die Wähler der bürgerlichen Mitte attrakttiv ist.
München - Der 37-Jährige lebt mit Frau Anisha und den beiden Töchtern (2, 6 Wochen) in Baldham. Er arbeitet als selbständiger Strategie- und Kommunikationsberater.
AZ: Herr Hagen, Sie sind nicht nur Spitzenkandidat der FDP für Bayern, sondern auch Direktkandidat im Stimmkreis Rosenheim-Ost - einer Gegend, die von der Flüchtlingskrise 2015 besonders betroffen war. Wie nehmen sie dort die Sorgen und Nöte der Menschen wahr und welche Lösungen bieten Sie an?
MARTIN HAGEN: Das Vertrauen in den deutschen Staat ist nach wie vor angekratzt. Das ist durch Vorfälle wie am Breitscheidplatz, dem Anschlag von Anis Amri, auch nachvollziehbar. Da hat Deutschland zeitweise die Kontrolle verloren. Ich nehme aber auch wahr, dass die Leute sagen: Es gibt so viele Themen, die uns unter den Nägeln brennen - bezahlbares Wohnen, Bildung für unsere Kinder, wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen - aber diese Dinge werden alle überlagert durch das Flüchtlingsthema, das so akut derzeit gar nicht mehr ist. Es ist ja nicht mehr so, dass in Kiefersfelden massenweise Migranten über die Grenze kommen.
Redet man mit Menschen aus dem Raum Rosenheim, hat man aber nicht den Eindruck, dass die Erlebnisse des Jahres 2015 völlig verarbeitet sind. Ganz im Gegenteil.
Natürlich habe ich auch Diskussionsabende, bei denen es nur um das Thema Migration geht. Aber auf der anderen Seite gibt es auch Diskussionen, bei denen die Leute genervt sind von der einseitigen Fokussierung auf das Thema. Die sagen: Wir haben so viele Baustellen, aber in jeder Talkshow geht es nur um Flüchtlinge. Und wenn von zehn Talkshows sich neun mit Migration beschäftigen, da muss auch ich sagen: Es gibt noch mehr wichtige Themen!
"Die CSU gibt ein grauenvolles Bild ab. Aber ich bin ziemlich sicher, dass der Wähler sie zur Vernunft bringen wird"
Verdanken tun wir dies auch und vor allem der CSU, die anscheinend nur noch dieses Thema kennt.
Ich finde das extrem abstoßend, was die CSU im Moment macht. Mir kommen auch zunehmend Zweifel an der Regierungsfähigkeit dieser Partei. Wenn ich mir dieses Theater anschaue um den Rücktritt und den Rücktritt vom Rücktritt von Horst Seehofer. Er hat den Koalitionsvertrag unterschrieben und dann diese Regierung nach 100 Tagen an den Rand des Abgrunds geführt. Die CSU gibt momentan ein grauenvolles Bild ab, sie ist außer Rand und Band. Ich bin aber zuversichtlich, dass der Wähler sie am 14. Oktober zur Vernunft bringen wird.
Mit welchen Konsequenzen?
Wenn die CSU mit dem Krawallkurs von Seehofer, Söder, Dobrindt scheitert, wird innerhalb der Partei die Diskussion losgehen. Dann werden besonnenere Kräfte wie Manfred Weber oder Ilse Aigner vielleicht die Gelegenheit bekommen, den Kurs zu korrigieren.
Treffen Sie viele Menschen, die von der CSU in die FDP wechseln wollen?
Ich höre momentan tatsächlich fast täglich, dass Leute sagen, das ist nicht mehr meine CSU. Die vertreten auch keine bürgerlichen Tugenden mehr, sondern das ist alles schrill, marktschreierisch, populistisch. Viele meinen auch, dass es der CSU ganz gut tun würde, wenn die Partei mit ihrem derzeitigen Kurs gegen die Wand fährt und dann im Herbst eine Koalition eingehen muss. Es haben sich ja auch vernünftige ehemalige CSU-Granden wie Alois Glück oder Hans Maier sehr kritisch geäußert.
Trotzdem: Die FDP liegt in Umfragen bei sechs Prozent. Es profitiert vor allem die AfD von dem CSU-Theater, oder?
Das war aber klar. Dass die CSU geglaubt hat, die AfD kleinkriegen zu können, indem sie ihr Leib- und Magenthema täglich in die Medien bringt und ihre Wortwahl kopiert, das war ein Trugschluss. Die CSU ist schon bei der Bundestagswahl mit dieser Strategie gescheitert. Jetzt macht sie mit Volldampf weiter.
Nochmal: Warum hat die FDP so wenig davon?
Ich finde sechs Prozent zu Beginn des Wahlkampfes einen ziemlich soliden Ausgangswert. Wenn man schaut, wo wir als FDP in Bayern in den letzten 30 Jahren waren, dann muss man feststellen: Wir waren häufiger draußen als drinnen. Wir haben hier ja mit den Freien Wählern auch noch eine zusätzliche Konkurrenz. Die stehen momentan zwischen sieben und acht Prozent, da sind auch liberale Wähler dabei. Ich bin sicher, die FDP wird bis Oktober noch zulegen. Mein persönliches Ziel sind die acht Prozent, die wir auch 2008 hatten - unser bisheriges Rekordergebnis in Bayern.
Welche Koalitionsoptionen sehen Sie denn für sich?
Es gibt ja eigentlich nur eine Option: Es gibt in Bayern nur eine Partei, die so stark wird, dass sie den Regierungschef stellen kann, und das ist die CSU.
Im Moment schaffen Sie es aber auch nicht zu zweit...
Da fehlen im Moment zwei Prozentpunkte. Das kriegen wir in den verbleibenden drei Monaten schon noch hin.
Eine Absage an die Freien Wähler?
Ich halte überhaupt nichts davon, vor einer Wahl alle möglichen Optionen auszuschließen. Mit der AfD und mit der Linken würden wir natürlich niemals im Leben eine Koalition eingehen. Aber ich finde, die Parteien, die im weitesten Sinne zur Mitte des politischen Spektrums zählen, müssen untereinander koalitionsfähig sein. Vor der Wahl Dinge auszuschließen, führt nur dazu, dass man den Wählerauftrag am Ende nicht ausführen kann. Und das führt zu Politikverdrossenheit.
Wo wären die Knackpunkte für Sie in einer Dreierkoalition?
Ich glaube, sie wird nicht notwendig sein. 38 plus acht macht 46 Prozent - das könnte knapp für eine parlamentarische Mehrheit reichen.
Aber stabil ist anders, oder?
Eine Regierung mit einer knappen Mehrheit ist nicht zwangsläufig instabiler als eine Regierung mit einer komfortablen Mehrheit. Ein Dreierbündnis würde ich per se nicht ausschließen. Aber wenn die Freien Wähler sagen, dass es mit ihnen keine dritte Startbahn am Münchner Flughafen geben wird, uns die dritte Startbahn aber wichtig ist, sehe ich da nicht unbedingt die große Schnittmenge.
Würden Sie denn ein Dreibündnis nur wegen der dritten Startbahn in die Luft fliegen lassen?
Das Thema ist schon ein wichtiges, weil es für den Wirtschaftsstandort Bayern von großer Bedeutung ist. Anders als unter Stoiber scheut die CSU heute solche kontroversen Themen, obwohl sich Söder gerne als Stoiberianer bezeichnet. Vielleicht ist er da aber mehr ein Seehoferianer, der bei unbequemen Themen nicht unbedingt die Nase in den Wind hält und sagt: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Sondern vielmehr auf bestimmte Projekte, die Widerstand erzeugen, verzichtet. Aber unabhängig von der Startbahn: Dreikoalitionen sind immer schwierig, das hat man auch bei den Jamaika-Sondierungen in Berlin gesehen.
Die dritte Startbahn ist ja sehr umstritten. Es gibt viele Leute, die sagen, dass es die gar nicht baucht. Warum setzen Sie sich über deren Meinung hinweg?
Die Stadt München ist nur einer von drei Gesellschaftern. Bei dem Bürgerentscheid, der rechtlich nicht mehr bindend ist, haben weniger als ein Drittel der Münchner abgestimmt, von denen knapp über die Hälfte dagegen war. Dadurch darf ein Projekt, das fürs ganze Land wichtig ist, nicht dauerhaft blockiert werden. Wenn zwei Gesellschafter sagen, wir brauchen die dritte Startbahn, sollte der verbliebene Gesellschafter kein Vetorecht haben.
Würde dadurch nicht der Zuzug in die Stadt erhöht werden?
Den Zuzug haben wir ja sowieso. München wächst. Da ist es auch nicht zielführend, wenn wir wichtige Infrastrukturprojekte verschleppen. Als ich im Jahr 2001 nach München gezogen bin, hatten wir 1,2 Millionen Einwohner, jetzt sind es 250.000 mehr. Da kann eine Stadt nicht sagen, wir behalten unser Gesicht als großes Dorf. Man muss darüber nachdenken, ob man an den Hochhausentscheid noch einmal rangeht, ob man nicht höher baut. Man muss auch mehr Wohngebiete ausweisen.
"Wenn 30 Syrerkinder in einer Klasse sind, reden die untereinander natürlich Arabisch."
Sie treten auch - überraschend für einen FDP-Mann - für mehr Sozialwohnungen ein.
Wir brauchen auch sozialen Wohnungsbau. Das Problem ist aber, dass Mieter auch dann noch in diesen geförderten Wohnungen bleiben dürfen, wenn sie aus den sozialen Schwierigkeiten herausfinden. Wir haben dadurch eine Fehlbelegung von rund 40 Prozent. Die FDP setzt daher mehr auf die Subjekt- als auf Objektförderung. Das heißt, wir geben lieber den Menschen das Geld als Zuschuss vom Staat, damit sich die Leute auf dem normalen Markt Wohnungen suchen können. Wir müssen Wohnraum insgesamt bezahlbarer machen. Das wird nur darüber gehen, dass wir mehr, höher und vor allem auch günstiger bauen. Die Baukosten sind explodiert in den letzten Jahren durch staatliche Auflagen bei der Wärmedämmung, beim Lärmschutz, bei allem möglichen.
Wie kann man den Druck von Städten wie München nehmen?
Das geht nur, indem man das Umland attraktiver macht. Da braucht es einen Öffentlichen Nahverkehr, der die Leute befähigt vom Umland schnell in die Stadt zu kommen. Da braucht es schnelles Internet, denn in vielen Berufen ist gar nicht mehr nötig, in der Stadt zu arbeiten. Ein Architekt muss nicht unbedingt in München sitzen, der kann genauso gut in Tirschenreuth sitzen. Aber nur, wenn er da schnelles Internet hat, eine Kita, ärztliche Versorgung.
Flächendeckend schnelles Internet gibt es in Bayern aber noch längst nicht überall...
Wenn ich mit dem Auto nach Baldham fahre, wo ich inzwischen wohne, dann falle ich vom relativ schnellen LTE auf 3G zurück - da ist die Situation in vielen Entwicklungsländern besser. Ob ich in Ägypten oder Sri Lanka im Urlaub bin, da habe ich in den entlegensten Gebieten hervorragende Internet-Anbindung.
Wie würde die FDP dieses Problem angehen?
Wir plädieren dafür, dass der Bund seine Beteiligungen an Post und Telekom veräußert und das Geld dann in die digitale Infrastruktur steckt.
Ihre Kernthemen für die Wahl haben Sie mit Talent, Technologie, Toleranz überschrieben. Was meinen Sie damit?
Mit Talent meinen wir Bildung im umfassenden Sinne. Wir haben in Bayern ein Defizit bei der frühkindlichen Bildung. Die CSU hat das lange vernachlässigt, weil man meinte, das Kind gehört bis zur Einschulung zur Mama. Für uns geht das Thema aber weiter, über die Schulen - hier fordern wir ein Recht auf Ganztagsschulen und eine Unterrichtsgarantie -, die Berufsschulen, die Hochschulen bis zum lebenslangen Lernen. In einer Zeit, in der sich Berufe so rasant schnell wandeln, kann das Lernen nicht mit der Zeugnisvergabe enden.
Zur Bildung gehört die Integration der Flüchtlinge. Hier hapert es noch gewaltig, oder?
Wir lehnen den Plan von Söder ab, Flüchtlingskinder aus dem Regelunterrricht herauszunehmen und in separate Klassen zu stecken. Das ist bildungspolitische Ghettoisierung. Wenn ich 30 Syrerkinder in einer Klasse habe, reden die untereinander natürlich Arabisch - die werden nicht sprachlich integriert, die werden nicht gesellschaftlich integriert, das ist der falsche Weg. Wir müssen zusätzliche Förderangebote schaffen, gern am Nachmittag gesonderte Deutschklassen, aber vormittags eben Regelunterricht.
Zum Thema Technologie...
Unser Wohlstand hängt davon ab, dass wir innovativer sind als andere. Wir brauchen einen besseren Technologietransfer: Wir entwickeln an Hochschulen ganz tolle Sachen, die nie in der Wirtschaft ankommen. Entweder bleiben sie graue Theorie oder sie werden im Silicon Valley umgesetzt, nicht in Bayern. Außerdem wollen wir die Start-up-Landschaft beflügeln. Hier müssen wir auch Bürokratie abbauen, damit es nicht mehr so kompliziert ist, sich selbstständig zu machen wie derzeit. Wir sind zu sehr abhängig von der Automobilindustrie, vom Maschinenbau - großartige Branchen, aber ich wünsche mir mehr Vielfalt.
Noch ein Wort zum Thema Toleranz, bitte.
Wir meinen damit die innere Liberalität der Gesellschaft, die momentan ein bisschen infrage gestellt wird durch die CSU, die dem Staat wieder christliche Symbole aufoktroyiert. Oder sinnlose Debatten darüber führt, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Auch, dass es zwei Rechtsgutachten gebraucht hat, um die Staatsregierung von ihrem Widerstand gegen die Ehe für alle abzubringen, finde ich peinlich. Wir wollen eine Gesellschaft mit klaren Regeln, aber innerhalb dieser Regeln darf jeder nach seiner Façon selig werden.
Zwischen AZ-Redakteur Clemens Hagen und FDP-Spitzenkandidat Martin Hagen besteht keinerlei verwandschaftliches Verhältnis.