Er wurde vor 61 Jahren im Behindertenheim vergessen!

Der Franke Leonhard Lutz lebt seit 1949 in einer Einrichtung für Zurückgebliebene – obwohl sein Gehirn vollkommen gesund ist
POLSINGEN Wenn Leonhard Lutz morgens aufwacht, fällt sein Blick auf Dürers „Betende Hände“. Er hat sie oft nötig gehabt. Denn ohne seinen Gott hätte er nicht ausgehalten, was ihm widerfahren ist: Leonhard Lutz ist 78 und lebt seit 61 Jahren im Heim für Menschen mit geistiger Behinderung der Diakonie Neuendettelsau in Polsingen (Kreis Weißenburg-Gunzenhausen).
Aber Leonhard Lutz ist nicht geistig behindert!
Seine Biografie ist eine Geschichte voller Missverständnisse, Ignoranz und Hass, bewegend und manchmal unglaublich. Leonhard Lutz erzählt sie im Büro seiner Wohngruppe, weil dies der einzige Raum ist, in dem man hinter verschlossener Tür vertraulich sprechen kann.
Immer wieder kommt jemand vom Pflegepersonal herein, holt einen Mantel oder hängt einen Schlüssel ans Brett. Lutz hört dann auf zu erzählen. Er blinzelt schräg über die eigene Schulter, bis sich die Tür wieder hinter seinem Rollstuhl schließt. Dies ist sein Gespräch, und man spürt, wie kostbar es ihm ist.
Die Mutter stirbt wenige Monate nach der Geburt
Leonhard Lutz kam mit einer schweren Körperbehinderung zur Welt. Er ist halbseitig gelähmt. Die Finger der rechten Hand krümmen sich nach innen, bewegen kann er sie kaum, das rechte Bein gar nicht. Der Kopf steht etwas schief, die Gesichtsmuskeln kämpfen mit Dauerspannungen, und inmitten einer besonders starken Emotionsflut versagt schon mal die Stimme. Aber Leonhard Lutz ist nicht geistig behindert.
Vielleicht hätte die Liebe einer Mutter das gesunde Hirn in dem kranken Körper erkannt. Doch die Mutter von Leonhard Lutz stirbt wenige Monate nach der Geburt an einem Gehirnschlag. Der Vater hat in der Kleinstadt Feuchtwangen (Kreis Ansbach) eine Gärtnerei zu führen und keine Zeit, sich um seinen Sohn aus erster Ehe zu kümmern. Und die Stiefmutter lehnt das behinderte Kind aus ganzem Herzen ab. „Sie hat mich auf offener Straße verprügelt, dass die Leute stehen geblieben sind“, erinnert sich Lutz. Wenn er daran denkt, durchfahren ihn die Ängste noch 70 Jahre später.
Der Engel in seinem Leben heißt Leonhard Hornberger. Der ist der Patenonkel und wohnt mit seiner Frau im gleichen Haus. Hornberger, ein einfacher Maurer mit Herz und Menschenverstand, erkennt das doppelte Elend seines Patenkindes und nimmt es auf. Weil man den kleinen Leonhard nicht in die Schule schicken kann oder will, unterrichtet ihn der Patenonkel selber. „Er hat mir so viel beigebracht, dass ich damit im Leben bestehen konnte“, sagt Lutz. Der Onkel baut ihm eine Gehhilfe, mit der Leonhard endlich, nach vielen Jahren, allein aus dem Haus kommt.
Auf welch festem christlichen Fundament der Maurer Hornberger steht, erweist sich, als eines Tages – Hitlers Euthanasie-Programm ist gerade angelaufen – einige Herren erscheinen, um den etwa zehnjährigen Leonhard „zu einem Spaziergang“ abzuholen. Breitbeinig baut er sich vor ihnen auf, den Patensohn hinter sich, und versichert: „Dann müsst ihr mich aber auch mitnehmen.“
Die Stiefmutter sagt: „Der hätte schon längst weg gehört“
Leonhard macht ihm bittere Vorwürfe: Er wäre doch so gerne spazieren gefahren. Später erkennt er, dass ihm der Patenonkel das Leben gerettet hat. Die Stiefmutter, sie leitet die NS-Frauenschaft, sieht die Sache übrigens anders: „Der hätte doch schon längst weggehört“, erklärt sie Hornberger, landet dafür aber zur feixenden Freude von Leonhard in einer Dornenhecke.
Doch dann, der braune Spuk ist inzwischen vorbei, nimmt das Leben von Leonhard Lutz eine neue, dramatische Wendung. Der Patenonkel wird schwer krank. Wohin nun mit Leonhard? Vor der Stiefmutter hat er panische Angst. Lieber will er ins Heim.
Am 19. Oktober 1948 bringt ihn sein Vater nach Polsingen, wo Neuendettelsauer Diakonissen im Schloss ein Behindertenheim betreiben. Leonhard fährt mit, im festen Glauben, es handle sich um ein Heim für Körperbehinderte. Als er jedoch nach einigen Stunden seinen Irrtum bemerkt, ist der Vater schon grußlos über alle Berge. Leonhard Lutz hat ihn nie mehr gesehen.
Die Diakonissen weisen dem Neuen seinen Platz zu. Er wohnt in einer Gruppe mit 30 Bewohnern, schläft in einem Schlafsaal für 15 Personen. Das Leben ist streng reglementiert. Die Fenster sind vergittert, Kontakt mit Frauen ist strengstens verboten, sogar die Gräberfelder auf dem Friedhof sind nach Geschlechtern getrennt. Der Umgang mit den anderen Bewohnern funktioniert nur selten. „Ich habe mich wahnsinnig schwer eingelebt“, erinnert er sich. „Oft habe ich geweint.“ Wieder versagt ihm die Stimme.
Und die Diakonissen? Sie müssen doch gemerkt haben, dass ihr neuer Zögling anders ist als die anderen im Heim, anders spricht, anders denkt? „Sie haben es gemerkt, aber sie haben es nicht akzeptiert“, glaubt Lutz. In der Werkstatt erledigt er jetzt kleinere Arbeiten: Leder stanzen, Brillen zusammenbauen. Dafür gibt es eine Mark pro Monat.
Nach gut zehn Jahren tritt wieder ein Engel in sein Leben. Es ist jemand vom Amtsgericht, der die Vormundschaften im Heim überprüft. Leonhard Lutz legt ihm die politische Lage in Deutschland dar, Adenauer ist Bundeskanzler, Heuss ist Präsident. „Sie passen doch hier auf gar keinen Fall rein“, entfährt es da dem Staatsdiener. Die Frau des damaligen Heimleiters muss auf der Stelle ihre Vormundschaft abgeben.
Lutz hätte jetzt das Heim verlassen können. Aber: Die Lähmung ist kein Pappenstiel. Er wird immer auf fremde Hilfe angewiesen sein. Auf dem Heimgelände in Polsingen kennt er sich aus, wo soll er sonst hin? Und so bleibt er im Heim. 61 Jahre lang.
Heute ist Leonhard Lutz Sprecher des Heimbeirates
„Gott hat es so gewollt“, sagt sich Lutz. „Er hat mich hierher gesetzt. Ich wollte einmal heiraten und eine Familie gründen, er wollte es nicht. Dann war es wohl gut so.“
Leonhard Lutz hat den Wandel in der Behindertenarbeit am eigenen Leibe miterlebt, bewusst wie kein anderer. Irgendwann bekam er einen elektrischen Rollstuhl, er durfte an Wahlen teilnehmen, die Wohngruppen wurden kleiner, das Pflegepersonal zahlreicher. Aus Behinderten wurden Bewohner, aus den Weggesperrten, Nur-Versorgten wurden Menschen, deren Fähigkeiten es zu finden und zu fördern galt.
Leonhard Lutz ist ein einmaliger Zeitzeuge dafür, dass sich die Dinge auf der Welt manchmal ohne Wenn und Aber zum Guten verändern. Dieses Bewusstsein hat ihn neben seinem tiefen Glauben mit dem Leben versöhnt.
Heute ist Leonhard Lutz der Sprecher des Heimbeirates und schreibt fleißig Sitzungsprotokolle auf dem eigenen Computer.
Sein Onkel Leonhard wäre stolz auf ihn. Thomas Greif