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120000 Viertklässler in Bayern bekamen am Montag das Zeugnis, das entscheidet, ob sie auf das Gymnasium oder die Realschule dürfen. Der Druck auf die Kleinen ist enorm, sagen Kritiker
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120000 Viertklässler in Bayern bekamen am Montag das Zeugnis, das entscheidet, ob sie auf das Gymnasium oder die Realschule dürfen. Der Druck auf die Kleinen ist enorm, sagen Kritiker

Die Viertklässler der Grundschule in der Schwanthaler Straße sind nervös. „Seit Schulbeginn warten sie gespannt auf ihre Zeugnisse“, sagt ihre Klassenlehrerin Ursula Lindner. Um elf Uhr schließlich Freudengeschrei in der ersten Reihe – aber auch einige betretene Gesichter: Gestern bekamen 120000 Grundschüler in Bayern ihr Übertrittszeugnis.

Das Stück Papier entscheidet, auf welche Schule sie im Sommer dürfen. Voraussetzung fürs Gymnasium ist eine Durchschnittsnote von 2,33 in den Fächern Mathe, Deutsch und Heimat- und Sachunterricht. Daniel Ilioski (10) klatscht in die Hände: „Bei mir hat’s gerade noch fürs Gymnasium gereicht“, freut er sich. Wer auf die Realschule will, braucht einen Schnitt von 2,66. Für die Kleinen bedeutet das Verfahren einen enormem Leistungsdruck.

Nur ein Trostpflaster ist es, dass Kinder, die die Durchschnittsnote nicht erreichen, an einem dreitägigen Probeunterricht an Realschulen oder Gymnasien teilnehmen dürfen. Bisher mussten sie dabei in den Fächern Deutsch und Mathe mindestens eine 4 und eine 3 erreichen. Um ein wenig Druck von den Kindern zu nehmen, wurde die Regelung im vergangenen Schuljahr gelockert: Schafft der Schüler beim Probeunterricht sowohl in Deutsch als auch in Mathematik jeweils nur eine 4, entscheiden von jetzt an die Eltern: Sie können ihr Kind dann trotzdem auf die gewünschte höhere Schule schicken.

Und noch etwas hat sich aus Sicht der Bildungspolitiker zugunsten der Schüler geändert: Früher wurden Übertrittszeugnisse nur auf Wunsch der Eltern ausgestellt. Bereits seit dem Schuljahr 2008/2009 jedoch erhalten alle Viertklässler ein Übertrittszeugnis. Damit solle die pädagogische Verantwortung der Eltern gestärkt und die Durchlässigkeit zwischen den Schularten erhöhten werden, betont Kultusminister Ludwig Spaenle.

„Kindern aus bildungsfernen oder sozial schwachen Familien wird der Wechsel auf eine höhere Schule dadurch erleichtert“, betont Peter Missy, Sprecher beim Bayerischen Philologenverband (bpv). Denn gerade diese Elternhäuser seien es, die sich eher über die Grundschul-Empfehlungen hinwegsetzen. „Das gilt auch für viele Eltern in den ländlichen Gegenden“, betont bpv-Chef Max Schmidt.

Für viele Lehrer greifen die Änderungen zu kurz. „Der Wechsel in die weiterführende Schule ist zu früh“, kritisiert die Münchner Klassenlehrerin und Konrektorin Lindner. Die Kinder seien dadurch schon in jungen Jahren einem enormen Notenstress ausgesetzt. Zwar wird mit dem neuen Konzept in allen Schularten die fünfte Stufe zur so genannten Gelenkklasse: Hier haben Schüler, Lehrer und Eltern ein Jahr Zeit, zu prüfen, ob das Kind an der gewählten Schule gut aufgehoben ist oder besser wechseln sollte.

Doch Lindner favorisiert ein früheres Modell in Bayern, das längst abgeschafft wurde: Nach der vierten Klasse kommen die besten Schüler demnach aufs Gymnasium. Die anderen Kinder besuchen bis zur sechsten Klasse denselben Unterricht. „Erst danach sollte sondiert werden, wer in die Real- oder die Hauptschule kommt“, sagt Lindner. Denn: „Sind die Besten weg, merken die anderen, dass sie auch etwas können.“ Viele Kinder seien außerdem Spätzünder, „vor allem bei den Buben ist das häufiger zu beobachten“, sie würden von einem späteren Auswahlverfahren profitieren.

Auch der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband fordert, dass Kinder wie in anderen Bundesländern länger gemeinsam lernen dürfen. Auf den Viertklässlern in Bayern laste ein immenser Druck, die erforderlichen Noten für einen Übertritt zu bekommen, schimpft BLLV-Präsident Klaus Wenzel. Die vielen Proben beherrschten den Schulalltag der vierten Klassen. Unterrichtet werde nur noch, was für die Proben und den Übertritt relevant sei.

Wenzel kritisiert: „Wer sich vor Augen hält, was der Probenplan den Schülern, ihren Lehrern und natürlich den Eltern abverlangt, nämlich sieben Proben im Fach Deutsch, fünf in Mathematik und ebenso viele in Heimat- und Sachunterricht, kann sich vorstellen, wie belastend die Situation für die Betroffenen ist.“. Zehnjährige seien „über Wochen einem ungeheuren Prüfungsstress ausgesetzt, in dem es nur noch um die beste Note für den Übertritt geht“.

Anne Hund

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