Braucht es einen dritten Nationalpark in Bayern? Im Gespräch mit einem Forstwissenschaftler

Was bringt ein Nationalpark wie der im Bayerischen Wald? Ein Gespräch mit Jörg Müller, der dort lebt und forscht.
von  Natascha Probst
Der Latschensee liegt im Nationalpark Bayerischer Wald.
Der Latschensee liegt im Nationalpark Bayerischer Wald. © Sandra Schrönghammer/Nationalpark Bayerischer Wald

Bayerischer Wald - Die Frage nach einem dritten Nationalpark neben Berchtesgaden und dem Bayerischen Wald für Bayern taucht immer wieder auf. Im Steigerwald und im Spessart war das Konzept schon heiß diskutiert worden.

Da lohnt es sich, bei denen nachzufragen, die es ausprobiert haben: Der Nationalpark Bayerischer Wald kann mittlerweile auf eine lange Geschichte zurückblicken – im Herbst wird er 55 Jahre alt. Doch was hat er gebracht?

AZ-Interview mit Prof. Jörg Müller: Der Forstwissenschaftler ist Inhaber des Lehrstuhls für Naturschutzbiologie und Waldökologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und stellvertretender Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald.

Prof. Jörg Müller
Prof. Jörg Müller

AZ: Herr Müller, können Sie noch durch den Nationalpark gehen, ohne überall Wissenschaft zu sehen?
JÖRG MÜLLER: Nein, eigentlich nicht. Ich gehe aber nur nachts und am Wochenende in den Wald. Unter der Woche ist mein Arbeitsplatz ein Computerplatz und nicht so romantisch, wie viele sich das vorstellen.

Wie natürlich ist der Wald im Nationalpark?
Da muss man ganz von vorne anfangen. In Deutschland gibt es durch unsere uralte Kulturgeschichte keine Naturwälder mehr. Im Mittelalter gab es noch verschiedene Nutzungsformen, doch dann ist die Bevölkerung gewachsen und es gab Holznot. Vielerorts wurden Fichten angepflanzt, die hier gut und schnell wachsen. Den Bayerischen Wald erwischte das spät, noch im 19. Jahrhundert war er sehr natürlich, doch innerhalb von 50 Jahren hat man diesen wilden Wald in einen Fichtenforst verwandelt.

1970 wurde hier dann der erste deutsche Nationalpark gegründet.
Damals wusste man noch nicht so richtig, was ein Nationalpark überhaupt sein soll. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis man diese Idee eines Nationalparks überhaupt erst entwickelt hat. Unsere nüchterne Nationalparkverordnung sagt, das Ziel sei der Erhalt der biologischen Vielfalt und der Lebensräume. Nur war das Problem, dass dieser Nationalpark, als man ihn geschaffen hat, ja noch der Wirtschaftswald von gestern war – sehr homogen, sehr fichtenlastig. Der ganze Gag kam dann erst mit den natürlichen Störungen.

Ein dritter Nationalpark? "Beinahe ausgestorbene Arten sind wieder richtig häufig geworden"

Mit dem Borkenkäfer?
Ja, da wären der Borkenkäferfraß und die Windwürfe, also von Stürmen entwurzelte Bäume. Diese Störungen haben die ganze Planung schnell über den Haufen geworfen. Dadurch wurde das, was vorher so homogen war, heterogen. Bei den meisten Artengruppen führen diese Störungsarten zu Gewinnen. Sie brauchen diese lichten Flächen oder das Totholz. Der Nationalpark ist heute eine Mischung aus hell und dunkel, aus viel und wenig Totholz, aus frischem und altem Totholz.

Der Borkenkäfer macht Wäldern in Bayern zu schaffen. (Symbolbild)
Der Borkenkäfer macht Wäldern in Bayern zu schaffen. (Symbolbild) © Michael Reichel/dpa-Zentralbild/dpa

Was hat das gebracht?
Man träumt ja davon, dass seltene Arten wieder häufig werden. Und tatsächlich ist das geschehen: Zum Teil sind beinahe ausgestorbene Arten wieder richtig häufig geworden. Da gehört etwa unser "Peltis grossa" dazu, ein Flachkäfer. Der ist aus Tschechien wieder eingewandert. Dort konnte die kleine Restpopulation durch den Borkenkäfer und die Totholzmasse explodieren und ist anschließend zu uns nach 120 Jahren zurückgekehrt. Ein anderes Beispiel ist die zitronengelbe Tramete, ein ganz seltener Pilz, der auch große Mengen an Totholz braucht. Das waren Beispiele aus den Lebensraumveränderungen. Und dann gab es natürlich noch andere Veränderungen, da Spitzenprädatoren wieder zurückgekehrt sind.

Welche denn?
Der Habichtskauz zum Beispiel. Oder der Luchs. Den Luchs hat man in den ersten Jahren vergeblich versucht, auf deutscher Seite anzusiedeln. Später ist es in Tschechien geglückt. Mittlerweile gibt es eine tragfähige Luchspopulation im Grenzgebiet. Auch der Wolf ist inzwischen wieder eingewandert. Damit haben wir eine Landschaft mit Wildkatze, Wolf und Luchs. Das ist für Mitteleuropa schon etwas Besonderes.

Im Grenzgebiet zu Tschechien gibt es mittlerweile eine tragfähige Luchspopulation (Symbolbild).
Im Grenzgebiet zu Tschechien gibt es mittlerweile eine tragfähige Luchspopulation (Symbolbild). © Bernd Weißbrod/dpa

Trotzdem gibt es immer wieder auch kritische Stimmen.
Vor allem beim Thema Borkenkäfer. Der neigt durch den Klimawandel immer mehr zu Massenvermehrungen. Diese rufen Ängste und Sorgen bei den Waldbauern hervor. Da wird das Thema schnell politisch. Für die Natur selbst ist es kein Schaden, sondern eher ein Motor für Biodiversität. Heute sind wir an dem Punkt, an dem man sagen kann, dass der Nationalpark in den letzten 30 Jahren dramatisch vielfältiger geworden ist. Eine ganze Reihe schon ausgestorben geglaubter Arten sind heute wieder ganz gewöhnliche Arten. Damit ist der älteste Nationalpark in Deutschland zur Erfolgsgeschichte im Naturschutz geworden.

"2019 habe ich den Peltis grossa plötzlich entdeckt"

Was war die überraschendste Erkenntnis für Sie?
Die Rückkehr des "Peltis grossa". Ich habe den Käfer 2019 plötzlich entdeckt.

Wie entdeckt man den Käfer plötzlich?
Kollegen aus Budweis waren am Dreisessel auf der Suche nach dem Zottenbock. Um halb elf nachts kam die Nachricht, dass sie keinen Zottenbock gefunden haben, aber der "Peltis grossa" häufig unterwegs sei. Ich bin aus dem Bett raus, beim Mondlicht hinters Hans-Eisenmann-Haus, wohin mein Instinkt mich führte. Nach zehn Minuten stand ich vor dem Käfer.

Hat sich das Naturverständnis der Bevölkerung durch den Nationalpark verändert?
Die Natur sich selbst zu überlassen, ist ein gesellschaftliches Gemeinschaftsprojekt. Die Gesellschaft leistet sich den Nationalpark, um sowas zu erleben. Für manche ist das schockierend, für manche aufregend, manchen ist es wurscht. Gezeigt hat sich, dass sich das Thema Totholz in den letzten 30 Jahren dramatisch verändert hat. Am Anfang fanden die Menschen das ganz schlimm, heute ist unstrittig, dass Totholz wichtig ist. Und jetzt sind wir beim Totholz-Projekt 2.0: das tote Tier im Wald. Wenn man sagt, man lässt einen toten Hirsch im Wald liegen, meinen viele immer noch: "Das muss doch nicht sein. Ein verschwendetes Lebensmittel." Dabei ignoriert man, genauso wie beim Totholz, dass es Tausende Organismen gibt, die genau diese Ressource nutzen wollen. Wenn wir hingegen einen Rehbraten essen, profitiert nur eine einzige Art, der Mensch.

"Der Nationalpark ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region"

Nun spielen ja Nationalparks auch eine wirtschaftliche Rolle.
Ich denke, dass für keinen der Bürgermeister in der Region der Nationalpark infrage steht. Natürlich sind wir eine große Verwaltung, da gibt es immer wieder etwas zu verbessern. Aber dass der Nationalpark mit rund 1,4 Millionen Besuchern im Jahr eine riesige Bereicherung für die Region und die Nationalparkgemeinden darstellt, ist völlig unstrittig. Der Nationalpark generiert über 1000 Arbeitsplätze und ist damit der wichtigste Arbeitgeber in der Region.

Würden Sie einen dritten Nationalpark in Bayern empfehlen?
Das ist eine gesellschaftliche Frage. Es wurde ja im Spessart und im Steigerwald ganz heiß diskutiert. Im Steigerwald kann man aktuell beobachten, dass immer mehr Gastronomie schließt, hier wäre ein Nationalpark sicher eine Chance gewesen. Aber das ist eine Entscheidung der Region. Man muss nirgends in Deutschland einen Nationalpark zum Erhalt einer natürlichen Landschaft begründen, weil alle unsere größeren Landschaften und auch Wäldern stark vom Menschen überprägt sind. Da ist eher die Frage: Will eine Region in diese Richtung? Und wenn sie es will, kann ich es nur empfehlen. Ich lebe seit fast 20 Jahren hier im Bayerischen Wald, habe mich sowohl mit den Einheimischen, der Region, dieser Dynamik Wald und den Arten angefreundet und bin total dankbar, dass ich hier leben darf.

Ist die Gesellschaft heute offener für das Konzept Nationalpark als vor 55 Jahren?
Ich denke auf jeden Fall. Allerdings führen aktuelle Krisen in der Welt dazu, dass das Thema Naturschutz wieder etwas in den Hintergrund rückt.

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