"Ein Schlag ins Gesicht"

Er arbeitet bei der Opferschutz-Organisation "Weißer Ring" und hat die Klägerin im Nürnberger Inzestprozess über Monate betreut. Ein Interview mit Kurt Stiermann.
von  Anne Kathrin Koophamel
Inzest-Prozess: Kurt Stiermann betreute die Klägerin.
Inzest-Prozess: Kurt Stiermann betreute die Klägerin. © AZ

Er arbeitet bei der Opferschutz-Organisation "Weißer Ring" und hat die Klägerin im Nürnberger Inzestprozess über Monate betreut. Ein Interview mit Kurt Stiermann.

AZ: Herr Stiermann, Sie haben die Klägerin betreut, die ihren Vater wegen 34 Jahren Vergewaltigung angezeigt hat. Er kommt für zwei Jahre und acht Monate in Haft. Was sagen Sie zu dem Urteil?

KURT STIERMANN: Das ist für mich völlig unverständlich. Ich kann mir nicht erklären, dass es nur Inzest und Nötigung ist und keine Vergewaltigung. Dabei steht das Wort „Nötigung“ schon für eine gewisse Mitschuld.

Das Gericht führt für das milde Urteil Widersprüche in der Aussage der Frau an.

Wir gehen davon aus, dass die Frau an dem Stockholm- Syndrom leidet: Sie hat eine emotionale Bindung zu dem Täter aufgebaut, um überhaupt mit dem Thema über so viele Jahre leben zu können. Wenn jemand 34 Jahre vom Vater missbraucht wird, sich in Widersprüche verstrickt und dann als nicht glaubwürdig beurteilt wird, ist es ein Schlag ins Gesicht. Und zwar für alle Opfer von Sexualstraftaten.

Warum?

Es entmutigt alle, die überlegen, eine Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen. Am Schluss wurde das Opfer zur Schuldigen gemacht: Man hat die Frau hingestellt, als ob sie ihren Vater verführt hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Tochter freiwillig mit ihrem Vater über Jahrzehnte ins Bett geht.

Welchen Eindruck haben Sie von der Frau?

Ich kenne die Frau seit März und sie ist sehr ruhig und zurückhaltend. Erst ihre Bewährungshelferin hat sie überredet, den Fall zur Anzeige zu bringen. Für mich war sie glaubwürdig.

Wird dieses Urteil als Präzedenzfall herhalten?

Das wäre schlimm. Eine Vergewaltigung ist ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit, die angezeigt werden muss. Dieses Urteil darf nicht zu einem Freibrief für Vergewaltiger werden. Der Vater hat das Leben der Frau ruiniert.

Wie geht es der Klägerin?

Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen, aber ich vermute, sie ist geknickt. Sie hat viel auf sich genommen, hat ihr Leid immer wieder vor der Polizei, Anwälten und dem Gericht durchlebt, musste Fragen über ihr Intimleben beantworten. Ich betreue etliche Opfer. Die meisten haben genau davor Angst. Opfer, die vielleicht überlegen, ob sie ihren Fall zur Anzeige bringen, werden sich das nach dem Urteil gut überlegen.

Wie geht es weiter?

Ich hoffe nicht, dass der Prozess zu Ende ist, sondern dass er vor einem höheren Gericht verhandelt wird. Es kann nicht sein, dass ein Mann, der seine Tochter über 34 Jahre lang vergewaltigt hat, nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis kommt und auch noch mit erhobenem Haupt aus einem Gerichtssaal marschiert.Interview:

 

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