Ein Ärschlein auf Beinen
NÜRNBERG - Beim großen Nürnberger Erzählkunst-Festival „Zauberwort“ wird an der Phantasie gekitzelt – mit Poesie, Humor und geschraubter Frivolität.
Es war einmal? Ach was: Es ist! Die richtungsweisende Vergangenheits-Floskel, fürs Märchenbuch als Fluchtpunkt auf dem Schleichweg fort von der Gegenwart immer passend, wird zeitlos. Aber beim Erzählen, das in Nürnberg nun schon das vierte „Zauberwort“-Festival vor vollen Sälen feiert (und 2008 wie 2003 mit der Standard-Freudenbotschaft kokettiert, dass hier „eine uralte Kunst wiederwird“) ist eben doch alles etwas anders. Zwar wimmelt es in den Geschichten von 13 sternförmig in Nürnberg einmarschierten Plaudertaschen, die sich dieser Tage bis morgen die Aufmerksamkeit eines noch ziemlich gnadenbringend gestimmten Publikums teilen, von üblichen Traumspiel-Verdächtigen, aber die Kunst besteht in der unberechenbaren Poesie-Behauptung des Augenblicks.
Wenn also ein Anatolier und ein Österreicher zweisprachig parlieren, der deutsche Brite und heimliche Favorit aller Englischlehrer Richard Martin seine prägnantest von sich gegebenen Ur-Laute zum Esperanto macht und Damen mit oder ohne Schlitz im langen Kleid so interessante Themen wie Totschlag und Sex beschwören, ist alles echte Live-Behandlung der Phantasie.
Drei „Lange Abende“ des Erzählens haben die Veranstalter der GeschichtenErzählKunstKOmpanie GEKKO, Ute Weidinger und Michel Zirk, angesetzt, und das meinten sie furchtlos ganz genau so.
Verschmelzung von zwei Sprachen zu Sketch-Portionen
Die nicht ganz puristisch aufs Wort beschränkten, mit wechselnden und gerne auch illustrativ eingreifenden Musikern wie Achim Göttert oder Hilde Pohl ergänzten Sampler erreichen das Format von Wagner-Opern und versorgen konditionsstarke Fans bis nach Mitternacht mit verbalem Kraftstoff. Da war man, im fortgeschrittenen Stadium des mit „Fabula“ überschriebenen ersten Abend-Angebots, satt oder süchtig, entweder high vor lauter Kommunikations-Placebos oder flüchtend vor der geballten Sprachgewalt hinein in den reinigenden Kalauer: „Fabula rasa“.
Die völlig leere Tafel, auf der ein heutiger Erzähler unbeeinflusst seine Geschichten entwickeln könnte, gibt es in dieser Kunst nicht. Es hat alles Bezüge zur Vergangenheit, ob das weit zurück ins Mystische greift, das schrullige Hausmärchen mit neuem Personal päppelt oder Erinnerungen ans alpine Raunen von Luis Trenker hochkitzelt. Helmut Wittmann aus dem Almtal mit Trachtenjoppe und dem auch schon klassischen „Nein, danke“-Wapperl ist vergleichbar launig und erweitert diese Charakteristik zur Doppelconference mit Mehmet Dalkilic aus Anatolien. Zwei Nationalitäten verschmelzen über die Sprachgrenze hinweg zu Sketch-Portionen. Verbrüderung der angenehmsten Art.
Erzählerinnen hüllen sich gerne in Abendgarderobe. Annette Wurbs aus Neubrandenburg mit Straußenfederbesatz ließ das Spielbein im langen Schwarzen sehen, verblüffte aber mit Brachialhumor um Pferdekiller und Oma-Mörder. Kerstin Otto bot in Samt berlinernden Decamerone-Ersatz, wo „lange Beine, auf denen ein schönes Ärschlein saß“ den Schrittmacher zu geschraubter Frivolität gaben. Geile Pfarrer und tumbe Hirten am Lotterbett, bis der Witz endlich die Moral bringt.
Erzählen zeigt sich beim Nürnberger Festival als eine Kunst, die erst in der Aufnahme durch den Konsumenten erblüht. Man muss es mögen, und wer seine Antenne ausfährt, empfängt reichlich Programm. Wie es einmal war – und weiter ist. Dieter Stoll
Montag, 18 Uhr, Ferrucio Cainero in der ErzählBühne Katharinenkloster, um 20 Uhr Dritter „Langer Abend“ in der Tafelhalle. Dienstag: 15 Uhr „Von Zauberdingen“ in der ErzählBühne, 16.30 Uhr Alex Konstinskij im Heilig-Geist-Spital.
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