Direkte Demokratie leben: Warum die Politikkultur in Bayern so anders ist

Bockige Bayern? Im Freistaat sind Bürgerbegehren Teil der politischen Kultur – doch es gibt auch Kritik. Das sagen Experten im Gespräch mit der AZ.
von  Anne Wildermann
In Bayern ist die Zahl der Bürgerentscheide besonders hoch?
In Bayern ist die Zahl der Bürgerentscheide besonders hoch? © Sebastian Gollnow/dpa/Archivbild

Tittmoning/Mehring/Schliersee/Straßkirchen - Nein heißt nein. In dem Fall gilt es der Landesgartenschau 2026 in Tittmoning (Landkreis Traunstein), den zehn Windrädern in Mehring im Altöttinger Forst (Landkreis Altötting) und dem Hotel-Neubau am Schliersee (Landkreis Miesbach). Das sind nur drei aktuelle Beispiele für Bürgerbegehren im Freistaat, die für hitzige Debatten sorgen.

Obwohl solche demokratischen Instrumente, zu denen auch Bürgerinitiativen zählen, schon lange die Politik mitbestimmen, polarisieren sie in der Öffentlichkeit. Die subjektive Wahrnehmung: Verhinderer, Querulanten und Torpedierer von Wandel und Fortschritt. Aber so einfach ist es nicht, wie Jan Renner, Landesgeschäftsführer und Pressesprecher des Vereins "Mehr Demokratie", mit Sitz der Landesstelle Bayern in München, auf AZ-Anfrage sagt.

"Zu fast jedem Thema kann es Begehren geben", sagt ein Politologe über Bayern

"Die allermeisten direktdemokratischen Verfahren in Bayern laufen geräuschlos ab. Natürlich finden teils sachlich harte Debatten statt, der Prozess als solcher funktioniert jedoch und Gewinner wie Verlierer eines Bürgerentscheids arrangieren sich mit dem Ergebnis", hat Renner beobachtet. Die Fälle, welche medial am meisten Aufmerksamkeit bekommen, seien meistens diejenigen, bei denen Bürgerinnen und Bürger etwas Großes verhindern.

Der Passauer Politologe Heinrich Oberreuter gibt allerdings zu bedenken, dass die Initiativen nicht immer positiv für die Gemeinschaft seien. "Weil etwas von bestimmten Interessen und Gruppierungen in der Bürgerschaft ausgeht, besitzt es nicht von vornherein höhere Legitimität. Was sie aber gerne behaupten. Dem darf man entgegentreten, besonders wenn Egozentrik zur Verantwortungslosigkeit neigt." Darunter fallen seiner Meinung nach allgemeine Beispiele wie: Ja zum Strom, aber nicht zu den Leitungen. Ja zu einer modernisierten Gemeinde, aber nicht zum Chaos der dazugehörigen Maßnahmen.

Auch wenn die Vorurteile nicht immer zutreffen, ist es Fakt, dass es in Bayern mehr Bürgerentscheide als in anderen Bundesländern gibt. Nach Angaben von "Mehr Demokratie" gab es im Jahr 2023 in Deutschland insgesamt 138 Bürgerentscheide, davon 76 im Freistaat – also mehr als die Hälfte. Der Grund: "Die Menschen in Bayern haben 1995 per Volksentscheid die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden erwirkt", so Politik-Experte Renner. Des Weiteren gibt es die Möglichkeit, dass fast jedes Thema, über das Gemeinderäte entscheiden, Gegenstand eines Bürgerbegehrens werden kann.

Die Zahl der Bürgerentscheide in Bayern hat sich halbiert

Oberreuter bemerkt: "Dem Trend zur Individualisierung entspricht es, selbst mitbestimmen zu wollen. Gelten soll, was ich oder wir unbedingt für richtig beziehungsweise für unerträglich halten, nicht was der Allgemeinheit dient." Das heißt aber nicht, dass die Bayern im Vergleich zu anderen Bundesbürgern notorische Gegner, unzufriedener oder zufriedener sind und deshalb von diesen Regelungen Gebrauch machen. "Über den Verlauf der Zeit hat sich die Zahl auf durchschnittlich 120 neu eingeleitete direktdemokratische Verfahren eingependelt. Fanden im Jahr 1997 noch 149 Bürgerentscheide statt, haben wir mittlerweile konstant 60 bis 80 Bürgerentscheide pro Jahr in Bayern", sagt Renner.

Konkret: Bürgerbegehren und -entscheide sind zwar über die Jahrzehnte hinweg Teil der politischen Kultur geworden, aber die Bayern entscheiden nicht blind, sondern situationsabhängig – und nicht immer dagegen. Das belegen auch die Zahlen von "Mehr Demokratie" aus dem Jahr 2023: "35 der insgesamt 76 Bürgerentscheide waren erfolgreich im Sinne des Begehrens, 36 waren nicht erfolgreich. Fünf Bürgerentscheide scheiterten am Abstimmungsquorum", fasst Renner die Statistik zusammen.

Für den Politologen Heinrich Oberreuter sind Bürgerbegehren nicht nur für Bayern, sondern für ganz Deutschland eine wichtige Chance, Gegenpositionen entscheidend zum Ausdruck zu bringen wie im Fall der Windräder in Mehring. "Der Streit kann weitergehen – und muss es sogar, wenn Einzelinteressen offensichtlich gemeinwohlschädlich sind." Und er ergänzt: "Es kann gelegentlich sein, dass in Einzelfällen Volk und Volksvertretung unterschiedlich denken. Dass man seine Vertretung gelegentlich an die Basis zurückbinden kann, ist kein Fluch."

In den vergangenen 25 Jahren sind es vor allem Wirtschaftsthemen wie Hotels, Einkaufszentren und Windparks gewesen, über die mit 26,3 Prozent direktdemokratisch entschieden wurde. 20,3 Prozent sind Verkehrsprojekte wie Umgehungsstraßen und Fahrradinfrastruktur sowie 15,6 Prozent bei öffentlichen Sozial- und Bildungseinrichtungen. Dass ein Bürgerbegehren auch mit einem klaren Ja im Bereich Wirtschaft ausfallen kann, belegt der Fall vom Bau des BMW-Batteriewerks in der niederbayerischen Gemeinde Straßkirchen (Landkreis Straubing-Bogen). Obwohl dafür rund 100 Hektar Acker verloren gehen, stehen die Straßkirchner hinter dem Großbauprojekt.

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