Dieser BH ist ein Oberbayer
München - Jede Minute verkauft sich weltweit ein BH aus Oberbayern – und das seit 125 Jahren. Über eine halbe Millionen Büstenhalter mit Spitze oder aus Mikrofaser, für Sportlerinnen oder Stillende, ohne Bügel oder mit Silikonpolstern produziert das Familienunternehmen „Anita“ aus Brannenburg bei Rosenheim pro Jahr. Da wird gepusht, verziert, verführt, vor allem gestützt.
Statt durchschnittliche BHs setzt die Familie Weber-Unger seit 1886 auf Nischenprodukte, vor allem auf üppige Dekolletés. Urgroßvater Ernst Max beginnt Ende des 19. Jahrhunderts Hosenträger, Bruchbänder – eine Art Gürtel – und medizinische Unterwäsche anzufertigen. Ein paar Jahre später erweitert er das Sortiment auf Leibbinden, Strumpfhalter, Korseletts, Hüftformer – und die ersten BHs, die unauffällig unter Seidenroben Halt geben. „Ein Modestil ist stark von der Unterwäsche abhängig, das macht sie für die Geschichte so wichtig“, sagt auch Isabella Belting, Modeexpertin vom Münchner Stadtmuseum.
„Mode hat mit gesellschaftlichen Strömungen zu tun.“ So trugen Heimchen eine schmale Taille mit betonten Busen, in Umbruchzeiten flossen die Kleider und verdeckte Rundungen. „Ein enges Seidenkleid um 1900 konnte nur so fallen, wenn die Taille mit einem Korsett gerade mal auf 55 Zentimeter geschnürt war“, sagt Belting. „Die einzige Aufgabe der Frau war es, neben ihrem Mann schön zu sein.“ Zur Not im Korsett.
„Damals stellten die Damen noch gänzlich andere Anforderungen an Unterwäsche als heute“, sagt „Anita“-Sprecherin Monika Gasser. Laut einer „Vogue“-Studie von 2009 wollen über die Hälfte der Frauen mit ihren Dessous verführen, vor allem an Silvester (siehe Kasten unten). Doch vor und während des Ersten Weltkriegs sollten Dessous weibliche Rundungen wegdrücken – und warm halten. Ein Credo, das in den 20er Jahren passé wurde.
„Unter den Charleston-Kleidern trugen Frauen lockere Hemdchen, aber keinen BH, so dass man leicht reinlinsen konnte“, sagt Mode-Expertin Belting. Knabenhafte Figuren blieben en vogue und die Hüftformer halfen, das zu erreichen. Das änderte sich nach dem Krieg: Jede Frau wollte einen Busen à la Marilyn Monroe, Brigitte Bardot oder Sophia Loren. Frauen sollten wieder Frauen sein. Kochen, Kinder und verführerische Rundungen inklusive. „Anita“ profitiert von dieser Modewelle.
Vom Mieder kommend, will die Familie Weber-Unger ihre Technik beibehalten und trotzdem Spitze, Schleifen und Bikinis nicht verschmähen. Die zerbombte Manufaktur wird in Brannenburg neu aufgebaut und eine Marktnische besetzt: BH’s für üppige Busen, die aus Frauen Diven wie in Hollywood machen – das Unternehmen brummt. Dass Dessous nicht nur schön sein müssen, dafür sorgte in den 60er Jahren Christine Weber-Unger, die die Enkelin des Firmengründers Ernst Max.
Selbst Mutter beginnt sie, Still-BHs zu entwerfen, die auch noch schön aussehen. Wenig später designt sie Dessous für Frauen nach Brust-Operationen. Bis heute werden in Brannenburg die Modelle im firmeneigenen Atelier entworfen, Schnittmuster gefertigt und der Sitz der Körbchen getestet. Die Masse der Büstenhalter und Slips werden hauptsächlich in Bangkok, Tschechien oder Portugal produziert – aber auch in Bad Tölz. Weber-Unger bleibt kreativ: 1972 entwirft sie den ersten Badeanzug für Schwangere. Für viele undenkbar, dass man den Bauch so offensichtlich zeigt. Doch die jungen Frauen finden genau das toll. Und auch ein bisschen rebellisch.
Die Nische wird für „Anita“ wichtig: Die Hippie-Bewegung macht den BH für viele Frauen unattraktiv. Er gilt als unbequem und konservativ. Schließlich kommen erstmals flexible Materialien wie Lycra oder Mikrofaser auf – die Wäschebranche sattelt um. Bis heute sind schlichte, atmungsaktive BHs bei Anita der Bestseller. Eine Reise nach Portugal katapultiert das oberbayerische Unternehmen schließlich in die Moderne. Eigentümer Georg Weber-Unger blättert dort während einer Geschäftsreise im Telefonbuch und stößt auf den Namen „Rosa Faia“. Dieser gefällt ihm so gut, dass er der Titel einer jungen, romantischen Linie wird.
Die Dessous-Mode der 80er Jahre ist sexy und sportlich. Die Höschen haben hohe Beinausschnitte, Stickereien und Schleifen am Büstenhalter und mit dem Body wird ein ganz neuer Trend gesetzt. Mitte der 90er muss „Anita“ sich noch einmal umstellen. Mehr ist mehr, das gilt auch für das Dekolleté. Aus den USA schwappt der „Wonderbra“ nach Deutschland und in Oberbayern werden Silikonkissen gefertigt. „Als einziges Unternehmen erzeugen wir bis heute unsere Silikonmischungen selbst“, sagt Gasser.
Ein Trend, der längst wieder ad acta gelegt wurde: Retro ist Mode. „Es ist die Suche nach etwas Heimeligen, das Halt gibt“, sagt Belting. Die Jungen fühlen sich oft ziellos und lehnen sich an alte Vorbilder an. Belting: „Man trägt Niedliches.“ Anita geht mit der weißen Kollektion „Edelweiß“ auf den Markt. 2010 macht das Unternehmen einen Umsatz von 82 Millionen Euro – mit unschuldigen, weißen Spitzen-BHs.
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