Die nächsten Opfer bitte!

NÜRNBERG - Tom Lanoyes „Atropa - Die Rache des Friedens“ in Georg Schmiedleitners Regie als Deutschland-Premiere in Nürnberg.
Das scharfe Beil wird immer wieder hochgerissen, der Tod schlägt wie ein Blitz ein – am Ende sind die stolzen Frauen, die der kriegerischen Männerwelt ihre Stirn boten, in Serie abgeschlachtet. Sie wollten es ja nicht anders. Der Machthaber, der inmitten dieser blutigen Verabschiedung aus einem unfassbar gewordenen Dasein nichts sonst sucht als die ewige Absicherung der eigenen Position, muss die Hand gar nicht erheben. Er ist die fleischgewordene Trägerrakete der zivilisatorischen Selbstgewissheit, zischt über Schicksal hinweg und fordert Blanko-Absolution für vermeintliche Helden-Taten. Wo es um Privilegien und Strategien geht, wird nicht weniger beschworen als „die Kultur der Welt“. Es klickert im Kurzzeitgedächtnis des Zuschauers. Der Rest ist Vernichtung.
Mitleid wäre die unpassendste Kategorie im Umgang mit Tom Lanoyes Klassiker-Fortschreibung „Atropa – Die Rache des Friedens“. Darin mutieren Tragödien-Texte von Euripides und Aischylos mit absolut gleitendem Übergang zur Pentagon-Prosa jüngster Vergangenheit ins messerscharfe Welt-Drama von heute. Von Iphigenie über Andromache bis Kassandra lauter Figuren aus dem Giftschrank der Vereinten Nationen. Georg Schmiedleitners Inszenierung, die Gefühle wie im Gefrierschock zeigt und der Wucht des Wortes die Gewalt der sparsam, aber stark eingesetzten Bilder unterordnet, holt sich ihre Kraft aus der Wut der Frauen. Ein Energie-Stoß, der die Konvention zerfetzt. Das belgische „Stück des Jahres 2008“ ist bei der mit großem Beifall aufgenommenen Deutschland-Premiere 2009 schlichtweg überwältigend. Es trifft auf den Punkt.
Bühnenbildner Stefan Brandtmayr hat den Guckkasten der Kongresshalle mit einem beweglichen Hotel-Querschnitt, einem Zwischenlager für noch nicht ganz abgebrannte Schicksale, in den Griff bekommen. Der Platz davor ist Aufmarschgelände für die unverrückbaren Machtstrategien des Agamemnon (Michael Hochstrasser spielt ihn verblüffend soft wie an einer Hohlnadel mit Kreide-Infusion und wird so zum Pragmatismus-Ungeheuer) und den aussichtslosen Sturmlauf der Frauen. Aus dem Haus blickend, auf der Feuerlinie zwischen den Gewalten, bündeln die partytauglichen Opfer ihren letzten Widerstand. Sie hören hohle Worte vom „Weltenbrand“ und fühlen die Herrschaft der „gegerbten Seelen“.
Isabella Szendzielorz ist die wasserstoffblondierte Klytämnestra, die zwischen den Fronten von untreuem Ehemann und gefangenen Feindes-Frauen unwillig das Beil als höherer Richter schwingt. Henriette Schmidt, Nicola Lembach, Jutta Richter-Haaser und Julia Bartolome sind das Kollektiv der Sterbenden, die im letzten Aufbäumen mit radikaler Rhetorik abrechnen.
Da achtet der Regisseur sehr darauf, dass weder Klagemauerblümchen noch Frauenpower-Mahnmale entstehen. In größter, schon an der Schmerzgrenze schrammender Dramatik tänzelt das Stück plötzlich auf Schaumkrönchen von Satire (Sagt die Ex-Prinzessin über ihren Stand: „Was nützt das heute/ich bin Beute“) und erhöht damit nochmal die Fallhöhe ins Entsetzen. Das ist gefährlich, denn es hätte zur Rutschpartie werden können. Aber ein fabelhaft homogenes, in jeder Geste eisig glitzerndes Ensemble hat alles unter Kontrolle.
Zurück bleibt der Mann, der gleichzeitig mit Worten streichelt und mit Taten prügelt, wie er sich noch im Schock der größten Demütigung als Heros reckt. Krieg als „Serie von Katastrophen auf dem Weg zum Sieg“ kann ihn nicht erschüttern. Die nächsten Opfer bitte! Dieter Stoll
Weitere Vorstellungen: 29./30.10, 13./14./21./25./26.11. – Karten Tel. 0180-5-231-600.