Die Erotik der Arbeit

NÜRNBERG - Beim Poetenfest in Erlangen: Ingo Schulze und sein neuer Wenderoman „Adam und Evelyn“
Das muss ein Sommer gewesen sein, 1989 in Ungarn! Westdeutsche Urlauber mischten sich mit ostdeutschen Ausreisewilligen. Mittendrin „Adam und Evelyn“ aus der DDR in Ingo Schulzes komplexen Roman: Adam reist Evelyn hinterher, weil sie ihn verlassen hat. Die sommerliche Stimmung, die Schulze heraufbeschwört, weicht, als sich die Grenze öffnet. Adam und Evelyn stehen vor der Wahl: gehen oder bleiben?
Herr Schulze, haben Sie 1989 mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen?
Nein. Ich hatte das Gefühl, den Freiraum noch nicht ausgeschöpft zu haben. Als Dramaturg am Theater habe ich immer erwartet, dass eine Inszenierung verboten würde. Aber das passierte nicht. Und dann gab es den Gedanken, und seit Gorbatschow war der nicht ganz abwegig, dass bei einer Stunde X auch noch ein paar Leute da sein müssten.
Wie haben Sie auf Freunde und Bekannte reagiert, die rübergegangen sind?
Traurig war es, wir wussten ja nicht, wann wir uns wiedersehen würden. Sympathie war aber auch dabei.
War Ungarn 1989 das Paradies?
Das war ein paradiesischer Zustand, weil es für einen kurzen Moment die Möglichkeit zu geben schien, zwischen zwei Systemen zu wählen.
Adam ist der Held aller Frauen, bis er im Westen ankommt. Warum?
Für Adam ist Arbeit etwas sehr Erotisches. Er ist als Schneidermeister ein Künstler, auch ein Privilegierter, denn Schneider waren rar und sehr begehrt. Im Westen trifft er auf Menschen, denen Marken wichtiger sind als Maßgefertigtes. Damit muss er zurechtkommen. Zudem geht er aus Liebe zu Evelyn mit, nicht aus eigenem Antrieb.
Sind Sie im Westen angekommen?
Die Frage müsste richtiger sein: Sind wir alle im vereinigten Deutschland angekommen? Als ich im Februar 1990 Zeitungsunternehmer wurde, absolvierte ich sozusagen einen Grundkurs Kapitalismus noch vor Einführung der Westmark. Natürlich träumten wir von einer anderen DDR. Aber 1990 war auch ein Jahr der Befreiung für mich, der Möglichkeiten, der Genüsse. Ich habe da viel Glück gehabt.
Was halten Sie Ost- wie Westdeutschen entgegen, die sich alte Zeiten zurückwünschen?
Ich kenne keinen Ostdeutschen, der sich die Mauer zurück wünscht. Und wahrscheinlich war die BRD in den 80ern tatsächlich sozialer. 1989 ist weltweit eine Zäsur, danach erst wurde die Wirtschaft wirklich global. Menschen, die sich zurücksehnen, würde ich sagen: Wir müssen jetzt was tun, um die Demokratie zu stärken und der allumfassenden Ökonomisierung Einhalt zu gebieten. Nehmen Sie nur die Bahn. Wir brauchen mehr Lebensqualität statt mehr Gewinn.
Sie waren schon mal beim Poetenfest, 1995. Wie sind ihre Erinnerungen?
Mein erstes Buch war noch nicht erschienen, und ich saß mit Hubert Winkels in einem großen Saal auf dem Diskussionspodium. Wir zählten drei Zuschauer, aber alle taten, als wäre es rappelvoll. Das fand ich sehr beeindruckend.
Interview: Georg Kasch