Die Angst vor Aufruhr: Wie lange bleiben sie noch ruhig?

In den Nachbarländern rumort’s, sogar Chefs werden gekidnappt – wann kracht es in Deutschland?
NÜRNBERG Anzuprangern gab es viel für Mittelfrankens DGB-Chef Stephan Doll an diesem 1. Mai im Zeichen der Finanzkrise: den „Skandal der Abfindungen“; dass 5000 Nürnberger zusätzlich zu ihrer Arbeit Hartz-4-Unterstützung benötigen; dass jeder Fünfte weniger als 10000 Euro verdient – im Jahr. Und noch etwas war Thema bei der DGB-Kundgebung auf dem Kornmarkt: die Angst vor dem Aufruhr, DGB-Chef Michael Sommer hatte jüngst vor sozialen Unruhen gewarnt.
Wie lange halten sie noch still, während in Frankreich bereits Firmen-Chefs gekidnappt – und wieder freigelassen – werden? Mit den Deutschen verhält es sich wohl so, wie es Lenin einst formulierte: Wenn der Deutsche den Bahnhof stürmen will, kauft er sich zuerst eine Bahnsteigkarte. Das zitierte Harald Weininger, DGB-Urgestein. „64 Prozent sehen keine sozialen Unruhen kommen“, meint er, „aber 50 Prozent laufen mit der geballten Faust herum und warten auf ein Signal der Gewerkschaften.“ Der Deutsche aber, so Weininger, brauche einen Startschuss, „den würde ich jetzt am liebsten selbst geben. Die Menschen sind frustriert, enttäuscht, wütend. Es werden Milliarden für Banken ausgegeben, aber der Schutzschirm für Arbeiter ist zu teuer. Wir sollten die Chance nutzen, dem Zocker-Kapitalisten die Zügel anzulegen.“
Oberbürgermeister Ulrich Maly bleibt moderat. „Die Frage ist, wie sich der Zorn äußert: bitte nicht darin, Autos umzukippen. Zorn kann sich kanalisieren – im Ergebnis von Wahlen oder im Zulauf zu den Gewerkschaften.“ Die Finanzkrise führe zur „Re-Politisierung“. Solidarität statt Unruhe, das wünscht sich auch Nürnbergs SPD-Chef Christian Vogel. „Sollten tatsächlich Menschen auf die Barrikaden gehen, dann wird das eine Minderheit sein.“
"Bei den Deutschen wird langsam der Unmut sichtbar"
Die Nürnbergerin Monika Padua (46) ist bei ver.di organisiert: „Bei den Deutschen wird langsam der Unmut sichtbar, doch Unruhen wie in Frankreich erwarte ich nicht. Wir haben andere Ausdrucksformen.“ Dazu zählt sie Demonstrationen innerhalb der Betriebe, „da wäre ich dabei“.
Siegfried Bernitt arbeitet seit 38 Jahren bei Mercedes Nürnberg, ist Betriebsrat. Soziale Unruhen fürchtet er nicht. Noch nicht: „Die Menschen bekommen ihren Hintern erst hoch, wenn die prognostizierten fünf Millionen 2010 keinen Job haben. Die Solidarität kommt erst, wenn es ans Eingemachte geht. Noch herrscht die Devise: Kurzarbeit ist doch besser als Arbeitslosigkeit.“ Er blickt über den Kornmarkt: „Wenn am 1. Mai mal 15000 hier auftauchen, dann wird’s unruhig.“ Laut Gewerkschaft kamen 7000 Menschen auf den Kornmarkt, das wäre im Vergleich zum letzten Jahr (rund 4000) ein sattes Plus. Doch eine zweite Instanz hat auch gezählt: die Polizei. Und die kam wieder nur auf rund 4000.
Susanne Will