"Die Angst gehört jetzt dazu": Der Krieg am Küchentisch einer Familie aus Geretsried

Geretsried - Vor sieben Jahren fand Ludwig Schmid seine Oma Anna zusammengekauert in einem Türrahmen in der Backstube des Familienbetriebes.
Sie hatte eine Panikattacke bekommen, als Militärflugzeuge, die den damaligen US-Präsidenten Barack Obama zum G7-Gipfel auf Schloss Elmau flogen, über den Ort donnerten. Der Türrahmen ist noch Teil eines alten Bunkers; Anna Schmid hoffte, dort sicher zu sein. "Sie war damals emotional völlig aufgelöst. Und heute ist sie das wieder", sagt Ludwig Schmid.
Vier Generationen sitzen um den Küchentisch in Geretsried. im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Uroma Anna (Jahrgang 1929) ist die Älteste, die Jüngsten sind die fünfjährigen Zwillinge Xaver und Simon. Und nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Angst vor dem Krieg zurück an diesem Küchentisch.
Ehepaar Schmid: Heiratsantrag einst in St. Petersburg
"Es ist erst ein paar Jahre her, da haben mein Bruder und ich darüber gesprochen, dass unsere Eltern in ihrem Leben bestimmt keinen Krieg mehr auf deutschem Boden erleben werden", sagt Ludwig Schmid (44), der seiner Frau einst in St. Petersburg den Heiratsantrag machte und eigentlich gute, glückliche Erinnerungen hat an Russland.
"Und dass wir wahrscheinlich auch keinen mehr erleben - aber die Buben, meine Neffen, womöglich schon. Heute bin ich sicher, dass die Kinder einen erleben werden und mein Bruder und ich auch noch - und vielleicht sogar auch noch unsere Eltern."
"Uri" Anna hat noch deutlich vor Augen, wie München zerbombt wurde
Die 92 Jahre alte "Uri", wie Anna Schmid von ihrer Familie genannt wird, war noch keine 16 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Und heute hat sie wieder Angst, "dass die Flugzeuge kommen", sagt sie.
Sie hat noch deutlich vor Augen, wie München zerbombt wurde, wie die Flugzeuge der Alliierten über Lenggries jagten, wo sie damals lebte. Jahrzehnte danach reiste sie in einen entlegenen Winkel Russlands, nahm sich von Moskau aus ein Taxi, um zu dem Ort zu gelangen, an dem ihr Vater damals im Krieg gefallen und begraben worden war.
Karin Schmid (68) hat Tränen in den Augen. "Ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg und ich habe Angst um meine Jungs", sagt sie. "Meine größte Angst ist, dass meine Söhne in den Krieg ziehen müssen. Mein Mann wird das ja wohl nicht mehr müssen, aber was ist mit den Jungs?" Sie sei im Kalten Krieg mit der Angst vor Russland aufgewachsen. "Und jetzt ist diese Angst wieder da."
Laut einer neuen Studie des privaten Augsburger Instituts für Generationenforschung ist die Sorge nach dem Einmarsch von Wladimir Putins Truppen in die Ukraine in der deutschen Bevölkerung in jedem Alter groß - am größten aber in der Gruppe der vor 1965 Geborenen. Mehr als 96 Prozent von ihnen haben in einer kürzlich durchgeführten Umfrage "große Bedenken" wegen des Ukraine-Konflikts.
Opa Anton: "Die Angst gehört eben jetzt wieder dazu"
Bei den Schmids unterscheiden sich die Ängste: Ludwig hat eher Angst vor einer atomaren Katastrophe, vor Radioaktivität, die alles verseucht. Davor, in den Krieg ziehen zu müssen, hat auch sein jüngerer Bruder Georg (41) keine Angst - "aber vor einem Atomschlag, davor große. Was wird denn dann aus den Kindern?" Drei Söhne hat er mit seiner Frau Steffi (41).
"Ich glaube schon, dass ganz unabhängig von Generationen heute mehr Deutsche als je zuvor Angst vor einem Krieg in Europa haben, auch wenn die Bundesrepublik im Moment nicht direkt betroffen ist", sagt Historiker Benjamin Ziemann, Universitätsprofessor im britischen Sheffield. "Das würde auch erklären, warum - nach den ersten Umfragen zu schließen - die große Mehrheit der Bundesbürger den dramatischen Schwenk hin zu einer rüstungsbereiten Außenpolitik begrüßt, und zwar parteiübergreifend." Opa Anton (71) sagt nicht viel in dem Gespräch. Irgendwann zuckt er mit den Schultern: "Die Angst gehört eben jetzt wieder dazu."