Der Schöne ist ein Biest

Standing Ovation und kreischende Fans: Im Fürther Stadttheater feierte das Musical „Jekyll & Hyde“ Premiere
An der Fürther Theaterkasse stand neulich ein Kunde, der vor dem Kauf von Karten für das Musical „Jekyll & Hyde“ eine entscheidende Frage hatte: „Um was geht es denn da?“ Dem Manne kann geholfen werden. Im Roman von Robert Louis Stevenson, einem Klassiker der apart angestaubten Grusel-Fantasy, geht es um den Wissenschaftler, der einen Spaltungsprozess zwischen der guten und der dunklen Seite des Menschen einleitet und beim Experimentieren ganz wie Kollege Frankenstein den Überblick verliert.
In der Show-Fassung von Steve Cuden und Komponist Frank Wildhorn, die jetzt am Fürther Stadttheater Premiere vor der Deutschland-Tournee hatte, ist das geheimnisvolle Dunkel eher grell dekorativ, die Handlung ein gut durchschaubares Stationen-Drama mit vielen Song-Anlegestellen. Im Mittelpunkt der schizophrene Titelheld beim schmetternd besungenen Selbstversuch. Ein adretter Doktor, dem man jederzeit Belegbetten in der Schwarzwaldklinik zutraut, greift auf der Suche nach unentdeckten Wahrheiten zu Drogen, und siehe da: Der Schöne ist ein Biest.
Nebel wie bei Edgar Wallace hängt in der Inszenierung von Andreas Gergen und Christian Struppeck (nach Magdeburger Modell) über der Szene und verlässt sie den ganzen Abend nicht mehr. Ob im Hospital oder im Labor, auf der Straße oder im Bordell - überall wabert die Londoner Wetterberichts-Metapher.
Romantische Sterbehilfe
Der Wissenschaftler Doktor Jekyll weiß Bescheid über Publikumsbedürfnisse und sagt an der Rampe sofort, ganz genau worum es geht: „Wahnsinn ist das schrecklichste aller Gefängnisse“. Und schon sitzt er drin. Zu sehen ist dann in der Darstellung des Norwegers Yngve Gasoy-Romdal, der spätestens seit der Titelrolle im Wiener „Mozart“-Musical 1999 zu Europas festen Musical-Größen gehört, ein charmant verzweifelter Jekyll, der sich mit deutlich unordentlicherer Frisur zum anderen Ich, dem grunzenden Totschläger Hyde, wandelt. Weil die Frontal-Bühne andere Gesetze hat als die intime Literatur, stehen dem Doppelgesicht zwei Frauen gegenüber - die liebende Braut und die Prostituierte. Könnte eine Spiegelung der schwarzweißen Männer-Phantasie sein, ist es aber nicht, denn die Damen übertreffen sich an Herzensgüte. Bis am Ende die Braut das geliebte Monster in einem Akt von romantischer Sterbehilfe abknallt.
Was der New Yorker Frank Wildhorn um 1990 als Broadway-Maßkonfektion mit Abnähern aus „Les Miserables“ und „Phantom der Oper“ schuf, ist ganz auf die zuvor einsetzende Entwicklung des Musical-Genres zur Pop-Oper fixiert. Die Musik macht Gemüts-Attacke im Stelzenlauf, die mikroportgestärkten Darsteller sind fortwährend aufgefordert, aus voller Kehle größtmögliche Gefühlswallungen abzuschießen. Ob man das mag, ist Geschmackssache, aber die Stil-Spezialisten, zu denen die Akteure der Fürther Aufführung gehören, sind Könner. Yngve Gasoy-Romdal (in seinem Hang zur Soul-Spirale aufwärts wird er manchmal zum Grönemeyer) und die Ton für Ton auftrumpfende Sabrina Weckerlin konnten nach der Vorstellung für andere Rollen den Zuschauer-Award des Musicalmagazins „Da Capo“ entgegennehmen. Kreischende Fanclubs waren angereist und heizten die Stimmung auf bis sich auch skeptische Franken zu Standing Ovations erhoben.
Genug Anlass zum Jubel
Was etwas übertrieben, aber nicht völlig falsch ist. Zwar stürzten sich seit der Freigabe der Aufführungsrechte schon 15 deutsche Provinztheater auf das Musical des eher fleißigen als inspirierten Herrn Wildhorn (er hat seither von „Dracula“ über „Cyrano“ bis „Bonnie and Clyde“ keinen Stoff ausgelassen), doch da steckt auch der verzweifelte Versuch der Intendanten drin, im Entertainment neben den Stage-Giganten zu bestehen. Wie in Nürnberg, wo mit Broadway-Oldies im Opernhaus der etwas andere Ausweg gesucht wird.
Was die Aufführung, die mit dem schwarzen Humor unbeholfen hantiert (schnell ein Kopf abgehackt, ein Herz rausgerissen, ein Baby über die Brüstung gehalten), unbedingt sehenswert macht, ist die Perfektion des singenden Tanz-Ensembles, das Stimme und Körpersprache gleich gut beherrscht und somit temperamentvoll etwas schafft, das an keinem festen Ensemble zu haben ist. Also dann doch genug Anlass zum Jubel. Dieter Stoll
Vorstellungen bis Silvester – Karten unter 974 2400.