Der Nachbar, das unbekannte Wesen

Nürnberg - Mit „Die Russen kommen!“ fand eine faszinierende Doku-Erzählung den Weg in die BlueBox des neuen Schauspielhauses. 14 Porträt-Miniaturen schaffen dabei ein besonderes Ereignis
Sie lebten als umgesiedelte Deutsche in Russland, hatten dort allen Grund, Stalin und Hitler gleichermaßen zu hassen – und stellen heute in der dritten und vierten Generation knapp zehn Prozent der Nürnberger Bevölkerung! Die „Russlanddeutschen“, die vor Ort zwischen Langwasser und Röthenbach so fein unterscheiden wie im Rückblick zwischen St. Petersburg und Sibirien, sind nach der großen Rücksiedlungs-Welle rund 4,5 Millionen neue Bundesbürger. Sie wurden empfangen mit dem Ruf, der jetzt auch als Titel über einem höchst bemerkenswerten Nürnberger Theater-Projekt steht: „Die Russen kommen!“ Die Uraufführung der Doku-Erzählung von Gesine Schmidt in der nagelneuen BlueBox des Schauspielhauses ist ein faszinierendes Ereignis, weil sie die entspannte Idealbalance von Information und Theatralik schafft.
Die Autorin, die mit dem preisgekrönten Stück „Der Kick“ ihr Bühnenformat von Dramatik als Essenz geduldiger Interviews etablierte, hat 21 Personen im Alter zwischen 17 und 90 Jahren befragt. Der daraus gefilterte Bühnentext stellt sie nicht als Originale aus, wie das bei der Gruppe „Rimini-Protokoll“ oder den Betroffenheits-Aufmärschen von Volker Lösch zum Trend geworden ist. Sondern vertraut sich Schauspielern an. Fünf Akteure in 14 Porträt-Miniaturen, in denen es nur so blitzt vor abwechselnd lapidaren und tragikomischen Erkenntnissen. „Glück“ kann da die kleine Witwenrente sein oder der Anteil am deutschen Wohlstand („Fährt Mercedes. Fährt Urlaub. Gutes Leben“). „Zukunft“ steckt gegenläufig in der Karriere-Aussicht als Heroin-Dealer oder in der Anmahnung von deutschem Traditions-Bewusstsein. „Wir sind doch nicht Amerika“, empört sich die Neu-Deutsche über „Ausländer“ – und ist also nicht nur gekommen, sondern angekommen.
Regisseur Patrick Schimanski lässt die Skizzen sanft einschwingen zu kollektiven Küchenliedern, in denen so nostalgisch wie anachronistisch „der Ostwind weht“ und schafft so die herzerwärmende Atmosphäre für den Blick auf widersprüchliche Generationssprünge. Auf Integration, die wahllos „alles aufsaugt“, auf „sonderbare Kleidung“ und „Nürnberg ist geil“-Enthusiasmus oder auf das Scheitern an der Sprache, die ihre Grenze nicht zwischen Deutschland und Russland, sondern zwischen Schwaben und Bayern hat. Das hat und braucht keine Effekte, sondern ist ganz auf die Fähigkeiten der zuverlässig patenschaftlichen Schauspieler und die Dynamik von Live-Theater gestützt. Kein Film, kein Fernsehen, kein noch so kluger Vortrag könnte das so empfindsam vermitteln. Pius Maria Cüppers, Rebecca Kirchmann, Henriette Schmidt, Patricia Litten und Thomas L. Dietz entwerfen wunderbar stimmige Charakter-Vignetten, die geradezu strahlen vor implantierter Sympathie. Als Zuschauer sieht man staunend den Nachbarn, das unbekannte Wesen. Die BlueBox hat ihre Studio-Erfolgsgeschichte, die zwei Jahre unterbrochen war, triumphal wieder aufgenommen. Dieter Stoll