Der Münchner Rechtsmediziner Wolfgang Eisenmenger wird 75
München - Gerade hat Wolfgang Eisenmenger verhindert, dass an dem Tisch, auf dem früher Leichen seziert wurden, zahlende Gäste speisen. Ein Gastronom wollte den schwarzem Marmortisch für sein Restaurant kaufen. "Wer kommt denn auf so eine Idee, dass man an einem solchen Tisch Gäste beherbergen könnte", sagt Eisenmenger, der an dem Tisch seinerzeit den ermordeten Schauspieler Walter Sedlmayr obduziert hatte. "Das schickt einem das kalte Grausen durch den Körper. Wir haben das natürlich abgelehnt."
Eisenmengers frühere Arbeit kann Außenstehende in der Tat schaudern lassen. Mehr als 20.000 Tote hat der frühere Leiter des Instituts für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) im Lauf seiner Karriere obduziert. Unter ihnen waren Franz Josef Strauß und der Modezar Rudolph Moshammer, aber auch Kinder: die in einer Kiste erstickte elfjährige Ursula Herrmann etwa, und die dreijährige Karolina, die vom Freund der Mutter mit deren Hilfe zu Tode gequält wurde. Auch im Fall des Nazis Rudolf Heß und bei Lady Di war er an Untersuchungen beteiligt. Am Montag wird Eisenmenger 75 Jahre alt.
Wo liegen die ethischen Grenzen?
Inzwischen kümmert sich der emeritierte Hochschullehrer vor allem um Ethikfragen: Seit 2010 leitet er die Ethikkommission der medizinischen Fakultät an der LMU. Sie bewertet jede Forschung an der Uni mit Menschen und menschlichen Geweben. Es geht um neue Impfmethoden, Medikamente und Medizinprodukte wie Herzklappen und auch um den Einsatz von Placebo, der nicht immer genehmigt wird. Denn womöglich würde damit einem Patienten eine Therapie nicht zuteil.
Vor fünf Jahren bekam die Kommission gut 500 Anträge im Jahr, zuletzt waren es gut 930. Die Möglichkeiten der Medizin weiten sich - und damit häufen sich Fragen nach ethischen Grenzen. Eingriffe ins Erbgut über die Genschere Crispr, wie in China an Embryonen vollzogen, sind zwar in Deutschland verboten. Doch die Frage, in welchen Fällen das Instrument bei schwer kranken Patienten angewendet werden darf, um ihnen mit eigenen genetisch veränderten Zellen zu helfen, beschäftigt auch Eisenmenger und sein 37-köpfiges Team. "Das ist ein klassisches Beispiel für eine Problemkonstellation", sagt er.
Ans Aufhören denkt Eisenmenger nicht. Er mache weiter, "weil es Spaß macht, Wissen weitergeben zu können". Regelmäßig sitzt er auch in Gerichtssälen und erstattet Gutachten: etwa zur Schuldfähigkeit unter Alkohol, oder zu Folgen von Fußtritten gegen den Kopf. Gerade ist Eisenmenger in Augsburg in einem Prozess um einen Prostituiertenmord vor 25 Jahren dabei. Im Fall Gustl Mollath zog ihn ein Gericht hinzu, um herauszufinden, ob Mollath seine Frau misshandelt haben könnte.
Der Rechtsmediziner klärte mit auf, als vor gut zwei Jahren Gerüchte aufkamen, Opfer des Olympiaattentats von 1972 seien gefoltert worden: Zwei Witwen behaupteten, ihre Männer seien von den palästinensischen Terroristen kastriert worden. "Das stimmt mit Sicherheit nicht", sagt er. "Wir haben unmittelbar nach dem Attentat alle Opfer seziert und es liegen die Obduktionsberichte vor, die belegen: Es war nicht so."
Vom Hitler-Vertreter bis zu Lady Di - Eisenmengers Wort hat Gewicht
Eisenmenger, geboren im baden-württembergischen Waldshut, wollte ursprünglich Landarzt werden. Doch vor der Niederlassung bekam er in Freiburg eine Stelle in der Rechtsmedizin. Die Arbeit faszinierte ihn. 1972 begann er am Münchner Institut, das er von 1989 an leitete.
Immer wieder hatte er spektakuläre Fälle. Nach dem Tod von Franz Josef Strauß 1988 wurde er nach Regensburg gerufen. Mit der Obduktion sollte er unter anderem klären, ob der Grund für den Zusammenbruch des CSU-Politikers eine Fischvergiftung sein könnte. Aber Strauß starb schlicht an den Folgen eines Herzinfarktes.
Nach dem Unfalltod von Lady Di und deren Freund Dodi Al-Fayed in Paris engagierte dessen Vater Experten, unter ihnen Eisenmenger, um die Untersuchungen zu überprüfen. Es ging um den ebenfalls getöteten Chauffeur Paul Henri. "Wir haben also die Untersuchungsakten zu diesem Todesfall überprüft und einige Mängel und Fehler konstatiert."
Für Angehörige des Hitlerstellvertreters Rudolf Heß kontrollierten Eisenmenger und sein Team, ob dieser wirklich Suizid begangen hatte. "Die Familie wollte wissen, ob das stimmt. Wir haben eine Nachdiagnose vorgenommen." Mit einer DNA-Analyse klärte sein Institut, dass es sich bei einem in Berlin exhumierten Toten um den Nazi-Verbrecher Martin Bormann handelte. Ebenfalls über DNA wies das Institut nach, dass Kaspar Hauser nicht - wie oft gemunkelt - ein badischer Erbprinz war.
"Dann fällt einem gar nicht mehr auf, was für andere erschreckend ist"
Eisenmenger und seine Kollegen erstellten Gutachten zu Vaterschaft, Vergewaltigung und Kindesmissbrauch. Mehrfach sprangen sie im Ausland ein: Eisenmenger arbeitete im Kosovo, half 1991 nach dem Absturz einer Air Lauda-Maschine mit 229 Toten in Thailand und schickte 2004 nach dem Tsunami Mitarbeiter ins Katastrophengebiet.
Jahrzehnte über Leichen gebeugt, mit dem Skalpell in der Hand - wie hält man das aus? "Man wächst in so eine Situation hinein. Dann fällt einem gar nicht mehr auf, was für andere erschreckend ist." Der Seziertisch fehlt ihm aber nicht. "Irgendwann ist man froh, wenn man diesen Part der Rechtsmedizin nicht mehr zu vertreten hat."
Dennoch bleibt er seiner Zunft treu. Irgendwann wird er selbst auf dem Edelstahltisch in den weiß gekachelten Kellerräumen der Rechtsmedizin liegen. Er hat seine Leiche schon jetzt zur Verfügung gestellt - vor allem, "um Vorurteile gegen die Sektion abzubauen."
Hier lagern Drogen, Geld, Waffen - und Sedlmayrs Schreibmaschine