Der Mann, der ein Stück Weltgeschichte fotografierte
AZ-Serie: Die Geheimnisse der Nürnberger Prozesse. Das Stadtarchiv hat die Rechte an den einmaligen Fotos von Ray D’Addario.
NÜRNBERG Mit der Frage, was Holyoke ist, würde Günther Jauch bei seinem TV-Rate-Roulette wahrscheinlich nahezu jeden in die Bredouille zwingen. Einer aber, der den Begriff als Kleinstadt im US-Bundesstaat Massachusetts sofort entlarven würde, ist Dr. Michael Diefenbacher (52), der Chef des Nürnberger Stadtarchivs. Mit einem Bewohner des Nests im Nordosten Amerikas names Ray D’Addario hat er in den 90er Jahren nämlich zäh verhandeln müssen. Doch es kam ein zeitgeschichtlicher Coup heraus.
50.000 Dollar legte Diefenbacher am Ende des zweijährigen Verhandlungs-Marathons im Auftrag der Stadt Nürnberg dem Ami auf den Tisch. Dafür erhielt er eine ungeordnete Sammlung von Papieren, ein paar Filmrollen – und rund 4000 Fotografien einschließlich deren Vermarktungsrechte. Ein Teil der Bilder, die Ray D’Addario in seiner Freizeit geschossen hat und die Trümmerwüsten des zerstörten Nürnberg nach dem 2. Weltkrieg zeigen, haben eher lokalen Wert. Der andere Teil jedoch dokumentiert ein Stück Weltgeschichte.
Im Herbst 1945 wurde Ray D’Addario, der damals für die amerikanische Armee als Fotograf arbeitete, nach Nürnberg abkommandiert. Hier sollte er die Prozesse gegen die hochrangigen Kriegsverbrecher mit seiner Kamera dokumentarisch festhalten. Die Bilder, die Nazi-Größen wie Hermann Göring oder Julius Streicher zeigen, gingen um die ganze Welt. Jetzt lagern sie in den klimatisierten Räumen des Stadtarchivs. Abzüge des einzigartigen Materials werden in dem Museum „Nürnberger Prozesse“, das im nächsten Jahr im Justizgebäude eröffnet werden soll, die zentrale Rolle spielen.
„Ich wurde von den Kriegsverbrechern respektiert“
Fast ein Jahr lang betrachtete der damals 25 Jahre alte GI die schrecklichen Protagonisten des Dritten Reichs vornehmlich durch den Sucher seines Fotoapparats. Ray D’Addario beschränkte sich bei seiner Arbeit nicht nur auf die Geschehnisse im berühmt gewordenen Sitzungssaal 600. Er tauchte auch hinab in die unterirdischen Gänge, die das Justizgebäude immer noch mit dem Gefängnis verbinden. Dort, im schwer bewachten Zellentrakt, entstanden manchmal geradezu intim wirkende Bilder der angeklagten Kriegsverbrecher. „Ich wurde von ihnen respektiert“, erinnerte er sich ein Vierteljahrhundert später, als er das erste Mal wieder an die Stätte seines historisch nachhaltigen Wirkens zurückkehrte.
Im November 1946, als zehn der zum Tode verurteilten Nazi-Schergen zum Galgen in die an das Justizgebäude angrenzende und inzwischen abgerissene Turnhalle geführt wurden, war Ray D’Addario zunächst enttäuscht und sauer. Den Auftrag, deren Hinrichtung zu dokumentieren, hatten die Militärbehörden an einen Fotografen aus Frankfurt vergeben. Im Nachhinein allerdings war er ganz froh, dass ihm dieser Anblick erspart geblieben ist. Mit dem Tod der Hauptkriegsverbrecher war sein Job in der zerstörten Stadt der Reichsparteitage noch nicht erledigt. Drei Jahre blieb er hier, hielt auch zahllose Szenen der zwölf Nachfolgeprozesse mit seiner Kamera fest.
Als er Nürnberg schließlich wieder in Richtung Amerika verließ, war Ray D’Addario nicht allein. Hier in Franken hatte er mit der jungen Dolmetscherin Margarete aus Wendelstein auch sein privates Glück gefunden. Beide, knapp 90 Jahre alt, leben heute in Holyoke in einer Seniorenresidenz.
Helmut Reister