Der Luftkampf der Hände
Nürnberg - In Nürnberg war Chopins Klavierkonzert mit Starpianist Lang Lang ein Ereignis, Berlioz’ Symphonie fantastique jedoch ein Erlebnis
Erlebnis oder Ereignis, das ist hier die Frage: Wenn der chinesische Flügel-Stürmer Lang Lang die Konzertbühne betritt (wie er es jetzt in der auch weit jenseits der 100-Euro-Grenze ausverkauften Meistersingerhalle erst zum zweiten Mal in Nürnberg tat), ist der etablierte Weltstar mit dem nachgereiften Wunderkind-Status zum meinungsspaltenden Event geworden. Während die Minderheit der Klavier-Puristen ihre kritische Distanz zum Draufgänger-Stil immer mehr ausweitet, ist die absolute Mehrheit der „Musik ist Trumpf“- Genießer begeisterter denn je. Das gefeierte Konzert mit Antonio Pappanos Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia belegte sehr schön, dass natürlich beide völlig recht haben.
Einen Augenblick der Krise hatte der Abend auch, denn zwischen zwei turbulenten Sätzen der Symphonie fantastique, die Dirigent Pappano mit dem mächtig ausholenden, vor Vitalität sprühenden Orchester in sattesten Farben über die Kanten messerscharfer Kontraste wetterleuchten ließ, tönte ein Empörungs-Ruf aus dem Publikum: „Wo ist Mister Lang?“ Er war auf dem Weg ins Hotel, hatte er doch nach seinem beherzten Solisten-Einsatz bei Chopins Klavierkonzert Nr. 1 in der Pause unter grimmigen Flankenschutz-Blicken von drei Bodyguards allerfreundlichst hundertfach CDs und DVDs signiert. Was der Herr, der dann samt Gemahlin alsbald türenschlagend den Saal verließ, nicht bedachte: Bei Berlioz kommen alle Instrumente vor, nur kein Flügel. Und: Dort, wo die Wut ausbrach, war das Konzert grade aus dem Erlebnis ins Ereignis durchgebrochen. Zugegeben, nur mit dem Orchester als Star.
Aber nichts gegen die nach wie vor überwältigende Kunstfertigkeit von Lang Lang. Der Pianist mit der denkbar steilsten Finger-Flugbahn, der zu den gewaltigsten Gipfeln der E-Musik auch metaphorisch wie mit Sneakers hochsprintet, war für Chopin stilgerecht auf Lackschuhe umgestiegen. Das schwere Salon-Parfüm, das über den Träumereien des Komponisten liegt, war einem erfrischenden After Shave gewichen, als der Solist das Herzzentrum seiner Interpretation erreichte. Ob verinnerlicht oder in großer Pose, melancholisch oder übermütig – bei Lang Lang ist Chopin durchweg kerngesund. Die Finger sausen nicht nur über die Tasten, sie federn und hüpfen wie auf dem Trapez von einem Effekt zum andern. Der Luftkampf der Hände scheint selbst die Pausen anzufeuern, das Umschalten von donnerndem Ausreizen zum intimsten Seelenkitzeln funktioniert technisch in allerhöchster Brillanz. Freilich bleibt das ein hellwacher Traum, robust noch in der lieblichsten Phrase. Lang Lang spielt betont kontemplativ, weitgehend mit geschlossenen Augen und himmelwärts gerecktem Kopf. Er gibt sich hin, wird zum sympathischen Guru seiner eigenen Ausstrahlung, während das Genie-Uhrwerk immer mal wieder mechanisch gegenläuft. Großer Jubel, aber mehr als eine Zugabe mochte er dann doch nicht geben.
Pappano und die Accademia hatten auch schon Rossinis „Semiramide“-Ouvertüre pianofrei mit Knalleffekt bewältigt und machten die oft zu hörende Berlioz-Großsymphonie zu einem Orkan, wie er so durchschlagskräftig auf dieser Bühne selten zu erleben ist. Das gab Bravo-Rufe, mag jedoch manchen Fans von Lang Lang sonstwo vorbei gehen. Aber sie kriegen ja am 10. April ihre Chance – da spielt der King of Plopp im Hörtnagel-Konzert abendfüllend garantiert solo. Dieter Stoll
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