Der Chef von Auschwitz ließ in Nürnberg alle schaudern

AZ-Serie: Rudolf Höß organisierte den Massenmord im Vernichtungslager perfekt und ohne jeden Skrupel.
von  Abendzeitung

AZ-Serie: Rudolf Höß organisierte den Massenmord im Vernichtungslager perfekt und ohne jeden Skrupel.

NÜRNBERG Starr saßen sie da. Alle. Die Richter und die Staatsanwälte, die Verteidiger und die Angeklagten, die Schreibkräfte und die Dolmetscher, das Wachpersonal und die Pressevertreter. Wie hypnotisiert schauten sie auf die flimmernden Bilder, die ein Projektor auf die eigens aufgebaute Leinwand warf. Mit den Aufnahmen, die russische Soldaten bei der Befreiung des Vernichtungslagers Au-schwitz-Birkenau gemacht hatten, zog das pure Entsetzen in den Gerichtssaal ein.

Mehr als 60 Jahre später kennt jeder geschichtsbewusste Deutsche die fürchterlichen Filmszenen, die damals bei den „Nürnberger Prozessen“ als Beweismittel zur Überführung der Kriegsverbrecher dienten. Hermann Göring, ranghöchster Repräsentant des NS-Regimes auf der Anklagebank, unternahm noch einen letzten verzweifelten Versuch, die Aufnahmen als propagandistisches Machwerk der Russen darzustellen. Zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings ein Mann noch nicht als Zeuge aussagen müssen, der die Massenmord-Maschinerie von Auschwitz wie keiner anderer kannte: Lager-Kommandant Rudolf Höß. Sein Auftritt vor Gericht war gespenstisch.

Aus Sicht der Nazis hätte es keinen Besseren wie ihn für diesen brisanten Job geben können. Er fragte nicht lange nach Beweggründen und Motiven, er war ein kritikloser, blind ergebener Befehlsempfänger. In seinen Aufzeichnungen findet sich zu seiner Positionierung innerhalb des NS-Räderwerks folgende Einschätzung: „Nach dem Willen des Reichsführers SS wurde Au-schwitz die größte Menschen-Vernichtungsanlage aller Zeiten. Ob diese Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben, soweit konnte ich nicht sehen. Wenn der Führer selbst die Endlösung der Judenfrage befohlen hatte, gab es für einen alten Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer.“

„Ich bin ein tierlieber und sensibler Familienmensch“

In Büchern wird Rudolf Höß immer wieder einmal als „Buchhalter des Todes“ tituliert. Doch das trifft den Kern seiner Persönlichkeit nicht. Wäre es so gewesen, hätte er die Zahl der in Auschwitz ermordeten Menschen sofort nennen können, doch Höß musste auf Befragung des Gerichts die Zahl schätzen, weil er sie nicht genau beziffern konnte. Ein in Auschwitz ankommendes Menschenleben war zu wenig wert, um es in jedem Einzelfall wenigstens buchhalterisch zu erfassen. Höß schätzte, dass in seiner Amtszeit als Lagerkommandant mindestens drei Millionen Menschen ums Leben kamen.

Höß war bei seinen Aussagen alles andere als theatralisch. Er war ruhig, emotionslos, um Sachlichkeit bemüht. Genau so, wie er auch seine Arbeit als staatlich angestellter Massenmörder versah. Die Verbrechen bezeichnete er als Hinrichtungen und freute sich nach dem Bau von 2000 Menschen fassenden Groß-Gaskammern und dem Einsatz des tödlichen Blausäureprodukts Zyklon B über eine erhöhte Tötungseffizienz: „Es dauerte drei bis 15 Minuten, je nach den klimatischen Verhältnissen, um die Menschen in der Todeskammer zu töten. Wir wussten, wenn die Menschen tot waren, weil ihr Kreischen aufhörte.“

Ende 1943 wurde Rudolf Höß von seinem Posten abgezogen und in das Reichssicherheitshauptamt nach Berlin versetzt, der politischen Schaltzentrale der Nazis. Grund für den von Heinrich Himmler angeordneten Innendienst waren Verfehlungen, die aus der Sichtweise der NS-Funktionäre schwerer wogen als der millionenfache Massenmord an den Juden. Höß hatte sich allem Anschein nach mit Wertgegenständen seiner Opfer, die eigentlich dem Reich zustanden, persönlich bereichert.

Ein halbes Jahr nach seiner Versetzung waren Rudolf Höß’ Spezialkenntnisse wieder gefragt. 400.000 Menschen, die gesamte jüdische Bevölkerung Ungarns, sollten auf „Führer“-Befehl hin in Auschwitz möglichst schnell ermordet und verbrannt werden. Für so ein Kommando war Höß genau der richtige Mann. Zweieinhalb Monate brauchte er für die Erledigung des Auftrags.

Vor Gericht bezeichnete sich Höß als einen tierlieben und sensiblen Familienmenschen. Glaubte er das womöglich selbst? Von ihm sind nämlich auch folgende Aussagen protokolliert: „Kinder im zarten Alter wurden unterschiedslos vernichtet, da sie aufgrund ihrer Jugend unfähig waren, zu arbeiten. Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung hineingesandt.“ Natürlich!

Rudolf Höß versuchte nach dem Krieg unter falschem Namen unterzutauchen, wurde jedoch von britischen Soldaten erkannt und festgenommen. Er wurde an die polnischen Behörden ausgeliefert und 1947 zum Tod durch Erhängen verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am Ort seiner eigenen Untaten. In Auschwitz.

Helmut Reister

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.