Der Ausverkauf Bayerns

Über Flächenverbrauch wird derzeit wieder heiß diskutiert – ein Thema, das oppositionelle Politiker, Wissenschaftler, Naturschützer und Bauern schon seit Jahrzehnten umtreibt. 
Karl Stankiewitz |
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Ende 2018: Hinter einer grünen Wiese an einer Großbaustelle in Freiham stehen Kräne.
Katharina Redanz/dpa Ende 2018: Hinter einer grünen Wiese an einer Großbaustelle in Freiham stehen Kräne.

Über Flächenverbrauch wird derzeit wieder heiß diskutiert – ein Thema, das oppositionelle Politiker, Wissenschaftler, Naturschützer und Bauern schon seit Jahrzehnten umtreibt. AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz erinnert sich.

München - Ausgerechnet ein Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten machte im Juni 1959 in einer eigens einberufenen Sitzung den irrwitzigen Vorschlag, den Perlacher Forst abzuholzen und zu bebauen. Den Journalisten verschlug es den Atem, und wohl nicht nur uns.

Jedoch: Die Zeit schien reif zu sein, um nach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder neue, große, wunderbare Siedlungsflächen für die neue, magnetisch anziehende Millionenstadt München zu erschließen.

Bayerns oberster Waldpfleger, der auch im Kultusressort umtriebige Alois Hundhammer (CSU), ließ sich denn auch nicht lumpen. "Hundertausende" könnten dort draußen "untergebracht" werden, verhieß der "schwarze Alisi”.

Für die einen "grüne Lungen", für andere nur "Holzacker"

Für die unerschütterliche Staatspartei, die den Erhalt der göttlichen Schöpfung noch lange nicht im Programm hatte, stand gleich mal fest, dass die großen stadtnahen Wälder am schnellsten und billigsten eine derartige Entlastung bringen könnten, gehörten sie doch dem Freistaat.

Gleich fand sich auch ein gefälliger Forstprofessor, der diese Erholungsparks, die andere als "grüne Lungen" schätzten, als nutzlose "Holzacker" abqualifizierte.

So geschah es, dass Münchens Wälder reihum zu politischen und privatwirtschaftlichen Spekulationsobjekten degradiert wurden. Im Januar 1954 erkor Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU) den Ebersberger Forst, die größte Mittellage-Waldung Europas, zum Standort eines 1,5 Milliarden teuren Protonenbeschleunigers – der Marsch in den Atomstaat konnte beginnen. Bayern sollte vom Agrarland zum "modernsten Staat Europas" werden, wie dann Goppels Nachfolger Franz Josef Strauß (CSU) der staunenden Welt verkündete.

Inzwischen, im Juli 1966, waren die Ganzgroßplaner des Freistaats dabei, ihre Claims auch im Hofoldinger Forst abzustecken; München brauchte nach mehreren Katastrophen halt dringend einen neuen Großflughafen. Es müssten nur vier Millionen Bäume weg.

Doch die Bäume blieben. Überall gingen Bürgerinitiativen auf die Barrikaden. Ganze Dörfer riefen zum Widerstand. Der Freidemokrat Josef Ertl, später Bundeslandwirtschaftsminister, drohte den Landschaftsfressern mit einer zweiten "Sendlinger Bauernschlacht". SPD und Bayernpartei im Landtag schossen eh quer (die Grünen befanden sich noch im Embryonalzustand).

Straßenbau, Siedlungen und vor allem – Gewerbegebiete

Auch Münchens Stadträte lehnten die von der CSU dargebotenen Gaben dankend ab. Der junge, durchaus fortschrittliche OB Hans-Jochen Vogel (SPD) meinte lapidar, die Wälder müssten für die Erholung erhalten bleiben, basta.

Man beschloss, Großsiedlungen nur innerhalb des Burgfriedens zu schaffen. Nur ein riesiger Rangierbahnhof, das "Schienenmonster", wurde noch in den Allacher Forst gepflanzt.

Wenngleich die Wälder weitgehend verschont blieben, so wurde der intensive Verbrauch von fruchtbarem oder artenreichem oder einfach nur schönem Boden eines der großen Umweltprobleme.

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, nachdem der Spätkapitalismus noch einmal aufgeblüht war, wurden neben Straßenbau und Siedlungsflächen insbesondere immer neue, immer größer werdende Gewerbeflächen von Kommunen, die auf Gewerbesteuer und Arbeitsplätze spekulierten, "auf der grünen Wiese" ausgewiesen und hergerichtet.

Tourismus, Freizeitleben und Konsum – alles en masse – forderten weitere Opfer an öffentlichem Grund und Boden. Einflussreiche Familien konnten ihre Latifundien auf Kosten der Allgemeinheit ausdehnen.

Im 5.000 Quadratkilometer großen Gebiet zwischen Boden- und Königssee versiegelte ein beispielloser Ferien-, Wochenend- und Zweithäuser-Boom viele Millionen Quadratmeter Gebirgsboden; inzwischen sind die Auswüchse dieser oft beklagten "Häuslpest" einigermaßen eingedämmt, nicht jedoch die hemmungslose Expansion der "Kaufparadiese", Versandzentren, Freizeitparks und dergleichen (nur Spaßbädern wurde aus Rentabilitätsgründen der Hahn zugedreht).

Immerhin verabschiedete Bayerns Regierung am 31. Januar 1978 erstmals ein 300 Seiten starkes "Umweltprogramm". Es sollte den starken Flächenverbrauch bremsen und dort, wo er unvermeidbar schien, mit strengeren Maßstäben steuern. Jahr für Jahr nämlich wurden dem von vielen Menschen bevorzugten Bundesland nicht weniger als 50 Quadratkilometer für neue Wohngebiete, Verkehrsanlagen und Gewerbeflächen abverlangt, insbesondere in der Nähe attraktiver Berge und Seen. Schon 1967 hatte ich eine Reportage überschrieben: "Alarm auf der Alm. Dem schönsten Bergland droht Verödung und Wassernot."

Auch im Umkreis von München werde der Druck auf Landschaft und Natur allmählich dermaßen zunehmen, dass hier das Schicksal des Ruhrgebiets drohe: das Auszehrungs- und Abnutzungssyndrom traditioneller Industriegebiete.

Und heute gibt es "unverbindliche Richtgrößen"

Diese düstere Prognose – sie hat sich bisher gottlob nicht bewahrheitet – stellte jedenfalls ein Expertenteam in einem "Sozialszenario" für das 2010 auf.

Tatsächlich führte der von der Staatsregierung forcierte Ausbau der Rüstungs-, Luftfahrt- und Raumfahrtindustrie rund um München zu einem kaum je in Frage gestellten und nie aufgeschlüsselten Raumbedarf. In einem "Schwarzbuch Gewerbegebiete" stellte der Bund Naturschutz im April 2003 fest, dass sich der Freistaat beim Bodenverbrauch allgemein an die Spitze der alten Bundesländer gesetzt habe. Täglich verschwanden Flächen in Größe von Fußballfeldern aus der Landschaft. Ähnliche Papiere und Klagen wiederholten sich.

Ein klares Stoppsignal ist nicht in Sicht. Diese Woche sagte Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW), das Ziel von maximal fünf Hektar Flächenverbrauch pro Tag bis 2030 solle nur eine "unverbindliche Richtgröße" sein.


Der Beitrag verwendet Texte aus Büchern von Karl Stankiewitz: "Babylon in Bayern" (edition buntehunde) und "Weißblaues Schwarzbuch" (Volk-Verlag).

 

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