Das Muttermonster geht k.o.

NÜRNBERG - Der 34-jährige Regisseur Enrico Lübbe über seine Inszenierung von Tracy Letts Drama „Eine Familie“ in der Tafelhalle.
Wer noch daran zweifelt, dass das Pulitzerpreis-gekrönte Drama „Eine Familie“ des Amerikaners Tracy Letts der Renner der Saison wird, muss nur einen Blick auf die Spielpläne der großen Theater werfen: Nach seiner deutschen Erstaufführung 2008 in Mannheim ließ der Dammbruch nur deshalb so lange auf sich warten, weil sich das Wiener Burgtheater das Zweitaufführungsrecht gesichert hatte. Nach Alvis Hermanis’ viel beachteter Wiener Ausstattungsorgie gibt es alle vierzehn Tage eine Premiere — in Nürnberg am 19. Dezember in der Tafelhalle. Regie führt Enrico Lübbe.
AZ: Herr Lübbe, was ist so toll an „Eine Familie“?
ENRICO LÜBBE: Das Stück ist eine Mischung aus großer Weltdramatik, Tschechow, O’Neill, Tennessee Williams, und Vorabendserien wie „Desperate Housewifes“ und „Grey’s Anotomy“. Darin versammelt ein tablettensüchtiges Muttermonster ihre große Familie zu Hause, weil ihr Ehemann verschwunden ist. Innerhalb von einigen Tagen zerlegt sich die ganze Familie gegenseitig und letztlich bleibt die Mutter allein zurück.
Krebsfälle, Ehebruch, Inzest, versuchter Missbrauch und einiges mehr — ist das nicht ein bisschen viel starker Tobak?
Das ist wahrscheinlich eine Geschmacksfrage. Ich hatte mit den vielen Themen kein Problem. Wir haben viel gestrichen und jetzt wahrscheinlilich die kürzesteste „Familie“, die es derzeit gibt, aber immer noch zwei Pausen. Das Schwierige beim Kürzen ist, dass die Motive sehr gut ineinander verstrickt sind. Wenn man da den Stift ansetzt, hat das Konsequenzen für das gesamte Stück.
Kommt man der schon im Originaltitel regional eingegrenzten Welt — „Osage County“ im US-Bundesstaat Oklahoma— mit Realismus bei?
Die große Familientragödie, um die es geht, ist nicht nur zeitlos, sondern auch örtlich und räumlich nicht richtig zu verorten. Es ist also durchaus auf unser Leben übertragbar. Im Stück gibt es zum Beispiel eine gruselige Beerdigungsfeier, wo viele Schauspieler gesagt haben: Ja, das kennen wir. Solche Momente gibt es in „Eine Familie“ oft, wo man sich denkt: Ja, so ist das Leben.
Wie reagiert das Bühnenbild darauf?
Hugo Gretlers Bühne ist eigentlich nur eine Spielbehauptung. Beim ersten Lesen habe ich gedacht: Ein Haus mit drei Etagen — wer soll das bezahlen? Und dann kommt man darauf, dass es diese konkreten Räume nicht braucht. Es geht schließlich um die Beziehung zwischen den Charakteren. Deswegen haben wir einfach nur eine schwarze, leere Bühne mit einem Spruch drüber. Und wie bei „Motortown“ sind alle anwesend.
Also ein Kasten, aus dem es kein Entrinnen gibt, wie in den Inszenierungen des preisgekrönten Regisseurs Jürgen Gosch?
Raus wird man schon können, aber die Parallelität erkennt man. Am Anfang kommen die Schauspieler auf die Bühne und schütten den ganzen Boden mit 35000 Schachteln voller Tabletten zu. Dazu gibt es Überhöhungen, zum Beispiel ein Bison-Skelett.
Nach zwei Problemstücken von Simon Stephens inszenieren Sie nun einen Tracy Letts — sind Sie in Nürnberg auf Zeitgenössisches abonniert?
Alle drei sind auffällige Schauspielerstücke. Das Staatstheater weiß, dass ich eine Vorliebe für Tschechow und Tennessee Williams habe. Deshalb habe ich mich über das Angebot von „Eine Familie“ sehr gefreut. Gerade wenn man das so gut besetzen kann wie in Nürnberg, macht es großen Spaß.
Also haben Sie für Nürnberg keine Klassiker im Blick?
Für nächste Spielzeit schon. Ich kann noch nicht sagen was, weil wir darüber noch im Gespräch sind. Aber ich denke, dass es ein moderner Klassiker wird.
Interview: Georg Kasch