Das ist Bayerns stillste Familie
Landau - Es ist knapp vier Jahre her. Melvin formt im Kindergarten Zeichen mit seinen Händen, anstatt Worte auszusprechen. Die Erzieherinnen sind verwirrt, wissen nicht, was er meint. Der Bub hat seine beiden Muttersprachen durcheinandergebracht. Vergessen, dass nicht alle Erwachsenen "Gebärdisch" beherrschen.
Es gab eine Zeit, zu der dachte der heute Achtjährige, er sei das einzige Kind mit gehörlosen Eltern. Er ist zweisprachig aufgewachsen, hat früh die Gebärden- und die Lautsprache erlernt. Seine Eltern Markus und Marina Ritt beherrschen die Lautsprache kaum. Nur vereinzelt haucht der Vater Worte hervor. Er hat seine eigene Stimme noch nie gehört, die seines Sohnes ebenso wenig.
Das Leben ohne Gehör ist eine Herausforderung - jede Minute
Seit über zehn Jahren lebt das Ehepaar Ritt im niederbayerischen Landau. Der Zufall hat das Paar vor rund 20 Jahren im Berufsbildungswerk für Gehörlose in Nürnberg zusammengeführt. Der 40-jährige Familienvater ist in Passau aufgewachsen, hat die einzige Gehörlosen-Realschule Deutschlands in München, später blockweise eine Gehörlosenschule in Nürnberg besucht und eine dreijährige Ausbildung zum Raumausstatter sowie Bodenleger in Geiselhöring absolviert.
Marina Ritt stammt aus Russland. Ihre Uroma war Deutsche. "Wir sind mit Genehmigung von höchster Stelle als Spätaussiedler zurück nach Deutschland gekommen", erzählt sie. Das war vor knapp 25 Jahren. Die 37-Jährige war in verschiedenen Stellen im Landkreis Dingolfing-Landau als Bürokraft tätig, sitzt gelegentlich sogar in einem Bekleidungsgeschäft an der Kasse – eine Herausforderung ohne Gehör. Aber Familie Ritt scheut Herausforderungen nicht.
Eine einheitliche Gebärdensprache gibt es nicht
Vor acht Jahren ist Sohn Melvin zur Welt gekommen. "Ich hatte es im Gefühl, dass Melvin nicht taub wird", sagt Marina, obwohl in ihrer Familie und in der ihres Mannes zumindest Schwerhörigkeit keine Seltenheit ist. Die 37-Jährige selbst litt mit vier Jahren an einer schweren Bronchitis und ist infolge unzureichender Behandlung taub geworden.
"Sprachlich hat es in Deutschland erst nicht recht funktioniert, weil ich kein Deutsch konnte", deutet Marina Ritt in Gebärdensprache, die sie sich in der Gehörlosenschule mühevoll angeeignet hat. Eine einheitliche Gebärden-Hochsprache gibt es in Deutschland bis heute nicht. "Wie in der Sprache der Hörenden gibt es Unterschiede", sagt Markus Ritt. "In Straubing wird teilweise schon anders gebärdet als in München."
Telefoniert wird bei Familie Ritt über einen Bildschirm
Zum Telefonieren nutzt Familie Ritt ein Bildschirmtelefon. Bildschirm-Dolmetscherdienste ermöglichen problemlose Kommunikation – fast problemlos. Auch die Dolmetscher gebärden nämlich mitunter in Dialekten. Sich im Landauer Umfeld einzugewöhnen, hat der Familiea anfangs Schwierigkeiten bereitet. Unbekannte Mundbilder erschweren die Verständigung. "Unser Wortschatz in der Lautsprache ist nicht unerschöpflich", so Melvins Mama. "Und man muss erst das Mundbild seines Gegenübers kennenlernen. In der Arbeit an der Kasse ist das oft furchtbar gewesen, wenn Leute die Zähne nicht auseinanderbekommen haben." Ein langsames, deutliches Mundbild, gepaart mit vielsagender Mimik und visuellen Zeichen erleichtern die Kommunikation.
Melvin besucht mittlerweile die dritte Klasse der Landauer Grundschule. Wenn Freunde bei ihm zu Besuch sind, geben sie den Eltern ihres Spielkameraden ihre Anliegen per Gestik zu verstehen, wenn sie etwa Durst haben. Irgendwie klappt’s immer mit der Verständigung.
Farben, Signale und Vibration
Wie sieht der Alltag der Familie sonst aus? Geweckt wird das Ehepaar morgens per Vibration. Und wenn es im Hause Ritt an der Tür läutet, gibt ein notizblockgroßer Kasten an der Wand Lichtsignale von sich. Eine Lichtklingel. Das Kästchen sondert Licht in verschiedenen Farben und Rhythmen ab. Marina und Markus Ritt erfahren anhand dessen, ob jemand anruft, das Kind schreit, die Haustür läutet, ein Fax eingegangen ist, der Rauchmelder piept oder ob sich Wasser am Boden ansammelt. Per Sensoren werden die Signale ausgelöst. Drei solcher Kästen hat Familie Ritt zu Hause – "zu wenig", findet Marina Ritt. Mehr zahlt die Krankenkasse aber nicht.
Markus Ritt ist sportlich sehr aktiv, er kegelt. Im Straubinger Gehörlosenverein trifft er auf Gleichgesinnte. Mit seinem Team hat er es sogar in der Deutschen Gehörlosen-Kegelmeisterschaft in die "Top Drei" geschafft. "Sport ist wichtig in der Gehörlosenkultur", deutet er.
Auch Musik spielt in vielen Leben eine wichtige Rolle, motiviert, beeinflusst die Stimmung, begleitet in schweren Zeiten. Dem Ehepaar Ritt ist Musik nahezu fremd. "Früher habe ich Musik geliebt. Heute kann ich nur noch sehr laute Musik hören", sagt Marina Ritt. Ihr Partner spürt Musik. "Bass und Rhythmus bekomme ich mit."
"Wir wünschen uns von anderen Mut, auf uns zuzugehen"
Haben die Ritts Wünsche für die Zukunft? Von den "Hörenden" wünscht sich das Ehepaar weniger Gehemmtheit, stattdessen mehr "Mut, uns zu integrieren, auf uns zuzugehen". "Außerhalb des Gesichtsfeldes bekommen wir nicht viel mit", gibt Markus Ritt zu bedenken. Und doch ist er sich mit seiner Frau einig: "Man kann auch als Gehörloser sehr gut leben." Familie Ritt beweist das auf bemerkenswerte Weise. Sie meistert ihren Alltag – auch ohne Gehör. In Stille.
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