Das Grauen der Nazis kam noch einmal zurück

Drei Jahre lang arbeitete Arno Hamburger (87) als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen.
NÜRNBERG Diesen Tag hat Arno Hamburger (87) nie vergessen. Jede Szene des 27. Mai 1945 hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt – für immer. An diesem Tag kehrte er in seine Heimatstadt Nürnberg zurück. An diesem Tag sah er seine tot geglaubten Eltern wieder. An diesem Tag glaubte er an ein Wunder. Die Schrecken des Nazi-Terrors waren schließlich vorbei. Wie nahe er den Protagonisten des gerade zusammengebrochenen Dritten Reichs dann doch noch einmal kommen würde, ahnte er an diesem Tag nicht.
Arno Hamburger, der auf Seiten der britischen Armee in Nordafrika gegen Hitlers Truppen gekämpft hatte, konnte im zerbombten Nachkriegs-Deutschland ein Persönlichkeitsprofil vorweisen, das Seltenheitswert besaß. Er sprach perfekt Englisch und bei ihm bestand keine Gefahr, von der Nazi-Doktrin infiltriert worden zu sein. Solche Leute wurden von den Organisatoren der Nürnberger Prozesse dringend gesucht.
2000 Personen waren mit der Organisation des Prozesses beschäftigt
Der gewaltige organisatorische Aufwand, der notwendig war, um die Nazi-Größen in der Vorzeit von Computer und Datenverarbeitung überhaupt vor Gericht bringen und verurteilen zu können, sprengte alle Grenzen. Allein die Amerikaner, die den logistischen Löwenanteil stemmten, beschäftigten rund um den Prozess über 2000 Personen: vom Staatsanwalt bis zum Fahrer, vom obersten Richter bis zum Wachpersonal.
Richtig diffizil war ein noch ganz anderes Problem: die Vielsprachigkeit des Verfahrens. Das Gericht war mit Vertretern der vier Siegermächte (Amerika, Sowjetunion, Frankreich, England) besetzt, die Angeklagten sprachen bis auf wenige Ausnahmen nur deutsch, die Zeugen und Eidesstattlichen Versicherungen repräsentierten fast das gesamte europäische Sprachgemisch. Das alles musste für alle übersetzt werden. Um auch die einzelnen Verhandlungen übersetzungstechnisch zeitnah in den Griff zu kriegen, stellte IBM eine eigens für den Prozess entwickelte simultan funktionierende Kommunikationsanlage zur Verfügung. Die Übersetzung selbst erledigten Dutzende von Dolmetschern. Arno Hamburger war drei Jahre lang einer von ihnen.
Was haben Sie dort genau gemacht? Diese Frage löst bei dem 87-jährigen, von erstaunlich geistiger und körperlicher Frische gesegneten Mann auch mehr als 60 Jahre nach Ende des Nazi-Terrors eine unvermutet emotionsgeladene Reaktion aus. Er holt aus demArbeitszimmer ein Bündel von Unterlagen, zieht erkennbar aufgebracht einen mehrseitigen Bericht heraus, legt ihn wortlos auf den Tisch – und sagt nach einer Pause: „So etwas habe ich übersetzt.“
Er brauchte lange, um mit der Situation seiner Heimatstadt zurechtzukommen
Das „so etwas“ sind Berichte von und über KZ-Arzt Dr. Siegfried Rascher, der in den letzten Kriegstagen zwar ums Leben kam und deshalb nicht auf der Anklagebank saß, dessen „medizinische“ Aufzeichnungen von grausamsten Menschenversuchen aber in den Nürnberger Prozessen eine gleichermaßen schauerliche wie wichtige Rolle spielten. Um die besondere Betroffenheit von Arno Hamburger zu verstehen, muss man wissen, dass er Jude ist – und dass er bis 1939 in Nürnberg den Aufstieg der Nazis, einen Julius Streicher und den brutalen Terror gegen seine eigenen Angehörigen erlebte, von denen viele in Konzentrationslagern ermordet wurden. Hinzu kam, dass die für irrsinnige Experimente ausgesuchten Menschen meistens jüdische KZ-Häftlinge waren. Das macht Arno Hamburger noch betroffener: „Solchen Ärzten in die Augen zu sehen, die am Holocaust meines Volkes beteiligt waren, ihre Perversität zu spüren, die Aussagen der wenigen Überlebenden zu lesen, war nur schwer auszuhalten.“
Er hat lange gebraucht, um mit der Situation seiner Heimatstadt innerlich zurechtzukommen. „Offener Antisemi-tismus ist mir nie entgegen gebracht worden. Was mich jedoch viel mehr gestört hat, war die Tatsache, dass es von einem Tag auf den anderen keine Nazis mehr gegeben hat. Alle waren dagegen, alle haben nichts gesehen, alle haben nichts gewusst. Und das in der deutschesten aller deutschen Städte. Ich konnte es nicht glauben.“
1972 kandidierte Arno Hamburger (SPD) für den Stadtrat, dem er seitdem ununterbrochen angehört. „Das war damals die Zeit, als man merkte, dass sich die alten Strukturen aufzulösen begannen.“ Helmut Reister