Das Epos vom Atommüll

Anfang November soll die unendliche Geschichte vom atomaren Endlager fortgesetzt werden: Das Bundesumweltministerium plant - nach langer Pause - wieder einen Castor-Transport quer durch Deutschland, Proteste sind zu erwarten. Indes will Bayerns Umweltministerium die Suche nach einem Atomendlager durch eine eigene Kommission "begleiten".
Publizistisch begleitet der AZ-Reporter dieses deutsche Epos seit 1958, als die Bundesminister Balke (Atom) und Strauß (Verteidigung) in Garching den ersten deutschen Reaktor (für Forschungszwecke) einweihten.
München, Februar 1960
Bayerns Oberste Baubehörde erstellt bei Garching einen Musterbunker zur Lagerung radioaktiver Abfälle. Die Erfahrungen möchte Franz Josef Strauß für ein "Bundessammellager" nutzen. Inzwischen arbeiten in Bayern bereits 250 Betriebe und Forschungsstellen mit Isotopen und anderen "heißen" Stoffen. Bei dem gefährlichen Abfall handelt es sich um schwach bis mittelstark strahlende Lumpen, Papier, Kleidungsstücke und ähnliche Materialien.

In den nächsten Jahren wächst der strahlende Müllberg in der Bundesrepublik bedrohlich an und die ersten, noch wenig sicheren Zwischendepots platzen aus allen Fugen. Deshalb lässt der Bund die Asse, ein stillgelegtes Salzbergwerke bei Wolfenbüttel (Niedersachsen), ab 1967 als Prototyp für die Endlagerung "ertüchtigen".
Nachdem kritische Berichte über den ersten, noch geheimen "Atomfriedhof" nicht verstummen, bittet der damalige Betreiber, die in München-Neuherberg streng abgeschirmte Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF), interessierte Münchner Journalisten zum Ortstermin.
Wolfenbüttel, Juli 1979
Gelbe 200-Liter-Tanks, alle randvoll mit gefährlichen Rückständen aus Medizin, Forschung und Industrie und einer bitumenartigen Füllmasse, rollen über eine Rampe, werden von Roboterarmen gegriffen, automatisch aufgehängt und an Stahlseilen in einen Schacht versenkt. Die letzten 70 Meter kippen die Fässer völlig frei in eine riesige Kaverne bis auf 996 Meter Tiefe.

Dort hinunter müssen Arbeiter einfahren und, zwar mit Schutzkleidung und Dosimeter, die Transportgerät bedienen. Alles ganz sicher für Jahrzehnte, erklären uns die Fachleute. Die atomaren Mülleimer können noch nur etwa 30 Jahre lang strahlen. Es handelt sich hier auch nur um schwache bis mittelstarke Radioaktivität.
Doch es dauert nicht lange, bis Gerüchte von Wassereinbrüchen und Instabilität des Gesteins zutage treten. Eine "Gesellschaft der Freunde der Asse" verklagt die Münchner Gesellschaft, die zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Bayern getragen wird.
Es kommt zu einem Moratorium, das die GSF für neue Forschungen nutzt. Künftig übernehmen Sonden und Fernsehaugen die Kontrolle in den "Grabkammern" der frühen Atomzeit. Auch sollen die Fässer "rückholbar" sein - für die Endlagerung irgendwann in der Zukunft.
Die Zwischenfälle häufen sich trotzdem. Erste Fälle von Blutkrebs beunruhigen die Bevölkerung. Der Strahlenstreit entzweit Wissenschaftler und Politiker. 1995 beschließt die Bundesregierung das endgültige Aus.
Auf Jahre hin werden die verbliebenen Hohlräume der Salzstöcke verfüllt. Vier bis sechs Milliarden Euro an Investitionen und eine ungenannte Menge von Atommüll sollen hier nutzlos und für ewig begraben sein.
In dieser Zwangslage verfällt die Münchner GSF auf die wahnwitzige Idee, den ganzen Müll mittels der von ihr in der Sasse erprobten Robotertechnik einzupacken und vorerst in einem leeren Warenhaus zu stapeln. Tatsächlich beginnt eine halbstaatliche Firma, die derlei Himmelfahrtskommandos lange trainiert hat, 1991 mit dem Abbruch und dem Transport in verschiedene Zwischenlager.

Die Arbeiter werden dort ständig überwacht, Staub und Aerosole abgesaugt. Kosten: rund 200 Millionen Euro. Endlagerung: ungewiss.
Nun aber taucht ein neues Problem auf: Nicht nur die eher schwach strahlenden Abfälle aus Medizin und Industrie, sondern auch die abgebrannten, auf sehr lange Zeit hochaktiven Uranstäbe aus den sich mehrenden Kernkraftwerken müssen irgendwie beseitigt und langfristig gelagert werden. Die Patentlösung heißt: "Wiederaufbereitung". Diese Großtechnik soll möglichst in der Nähe eines zukünftigen Endlagers stattfinden.
Ein neuer Ortsname gerät dabei in die politische Diskussion: Gorleben. Ganz in der Nähe des Idylls, bei Dragahn im Herzen eines Naturparks, soll außerdem eine Wiederaufbereitungsanlage für Uranbrennstäbe entstehen (WAA). Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), der Vater Ursula von der Leyens, träumt von einem nationalen "Nuklearzentrum".
Wackersdorf, ab Januar 1985
Albrechts bayerischer Amtskollege Franz Josef Strauß will die WAA auch haben, gegen heftigen Widerstand der SPD. "Nur G'spinnerte können dagegen sein," trotzt der frühere Atomminister. Tatsächlich bestimmt die Regierung Kohl, der vier CSU-Minister angehören, am 23. Januar 1985 das konkurrierende Wackersdorf in der Oberpfalz als Standort der WAA. Das Drama erreicht seinen Höhepunkt.
Das Geschehen im Taxöldener Forst ist in zahlreichen Berichten, Büchern, TV-Dokus und Spielfilmen verewigt: Vom Widerstand auf breiter Front, wilden Kämpfen im Wald mit mehreren Toten bis zur Aufgabe des Prestigeprojekts durch die beteilige Wirtschaft im Januar 1989.
Dannenberg, April 1996
Immer mehr deutsche Kernkraftwerke verfügen über Zwischenlager. Deren Kapazitäten könnten ausreichen, um nicht nur den eigenen, weniger gefährlichen Strahlenabfall, sondern auch den einst aus Deutschland exportierten Müll aus dem Ausland zurückzuholen. Dafür baut man sogenannte Castoren: Das verseuchte Material wird mit Glas verschmolzen, in Stahlzylindern versiegelt und von 500 Grad runtergekühlt.
Die tonnenschweren Behälter werden dann auf Lastwagen oder Waggons aus Frankreich und England reimportiert.
Im April 1995 rollt die erste Castor-Kolonne über die eigens ausgebaute Verladestation Dannenberg ins nahe Zwischenlager von Gorleben. Sofort werden die Transporte zum strittigen Politikum. Abertausende von Demonstranten liefern sich mit Tausenden von Bundespolizisten entlang von Zufahrtsstraßen und Bahntrassen telegene Gefechte.
Fortlaufend wird die Tauglichkeit von Gorleben auf Endlagerung untersucht. Die Proteste reißen nicht ab. Mit Beginn des neuen Jahrtausends stoppt der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin die Arbeiten.
Die Castor-Transporte aus Frankreich und England aber, die zeitweise von der Bundesumweltministerin Angela Merkel verboten wurden, laufen prinzipiell weiter; ab 2005 darf aber nur noch bereits aufbereiteter Atommüll in Zwischenlagern direkt bei den noch betriebenen Atomkraftwerken gelagert werden.
Offen bleibt weiterhin, was damit geschehen soll, wenn am 31. Dezember 2022 auch diese drei Veteranen, darunter Isar II im bayerischen Ohu, abgeschaltet werden. Ebenso, wo endlich die deutsche Endstation für den hochaktiven Müll sein soll. Nicht völlig utopisch klingen jetzt Vorschlägen wie: Auf dem Mond oder - wie Finnland tatsächlich in 450 Meter Tiefe plant - im Meer.
München, 28. September 2020
Offiziell wird bekanntgegeben, welche Regionen überhaupt für die nationale Atommüllkippe in Betracht kommen. Es sind 54 Prozent der Gesamtfläche Deutschlands.
Dort soll ein "Nationales Begleitgremiums" (NBG) von 18 "interessierten Bürgern" unter Vorsitz der Münchner Umweltpolitik-Professorin Miranda Schreurs den Lagerplatz für die noch jahrtausendelang strahlende Hinterlassenschaft der Atomära auf "wissenschaftlicher" Grundlage ausfindig machen. Die Entscheidung wird für 2031 "angestrebt".
Günther Beckstein, prominentes Mitglied des "Begleitgremiums", erläutert am 2. Oktober im Münchner Presseclub die neue, verzwickte Lage. Der vormalige Ministerpräsident befürchtet - wie sein Amtsnachfolger Markus Söder - eine enorme Verunsicherung in den nächsten Jahren. Warum? Zwei Drittel der Fläche Bayerns sind in der Fahndungsliste, während das bisher "favorisierte" Gorleben fehlt.
Unter möglichen Standorten im Freistaat stand schon früher der Bayerische Wald (neben dem Fichtelgebirge) in der Diskussion. Könnte das Interesse jetzt tatsächlich auf diesen schönen Gebirgszug zulaufen? Auf Anfrage der AZ räumt Beckstein ein, dass der Granit-Untergrund des Bayerischen Waldes nie auf entsprechende Lagerfähigkeit geologisch untersucht wurde. Doch es müsste Ausnahmen geben, etwa bei Schutzgebieten oder bei ausgewiesenem Kulturerbe. "Es werden noch viele, viele Fragen zu klären sein."
Berlin, 22. Oktober
Die Bundesregierung bekräftigt die Zulassung eines weiteren Transports von sechs Castoren aus der WAA Sellafield (England) über den Hafen Nordham (Niedersachsen) quer durch Deutschland zum Zwischenlager Biblis (Hessen). Einem Widerspruch der niedersächsischen Landesregierung wegen der Pandemie hält Berlin "völkerrechtliche Versprechungen" entgegen.
Widerstandsgruppen schalten im Internet auf "SMS-Alarm" und rüsten für Anfang November. Hunderte von Polizisten sollen den Konvoi mit dem strahlenden Müll schützen.
Einige Details sind dem Buch "Babylon in Bayern" von Karl Stankiewitz entnommen.