Da kann nichts schrecken
Für „Boulevard Solitude“ hat Christof Prick persönlich die musikalische Leitung übernommen. Der Nürnberger Orchester-Chef im AZ-Interview über Henze und modernere Opern.
Neuigkeit aus zweiter Hand: Am Opernhaus Graz war diese Inszenierung von G.H. Seebach, die am 2. Februar als Nürnberger Erstaufführung von Hans Werner Henzes erster Oper „Boulevard Solitude“ aus dem Jahr 1955 Premiere hat, bereits zu sehen. Komplett neu ist hier die Besetzung – und statt des ursprünglich angekündigten Philipp Pointner studiert der Chef persönlich ein. Christof Prick – bislang eher auf das Dreigestirn Mozart/Wagner/Strauss festgelegt – hat nach seinem grandiosen Erfolg mit „Così fan tutte“ und vor seinem im Mai folgenden „Lohengrin“ die musikalische Leitung übernommen.
AZ: Wenn der Chefdirigent kurz vor Probenbeginn eine Produktion an sich reißt, vermutet man Hintergründe. Gab es eine unvermutete Lücke im Terminkalender oder künstlerische Motive?
CHRISTOF PRICK: Ich habe Spaß an solchen Werken und eine ziemlich große Vergangenheit darin, die nur in den letzten Jahren etwas abgerissen war. Henze ist 80 geworden und ganz sicher einer der Großen. Sowas will ich selber machen, wenn es irgendwie geht. Die Möglichkeit hat sich für mich ergeben, und der Kollege Pointner war nicht böse drum.
Was ist das Besondere an einer Oper, die hier nach 50 Jahren Erstaufführung erlebt?
Wir spielen in Nürnberg solche Stücke so gut wie kaum, haben aber bei Reimanns „Melusine“ auch in der Zuschauerreaktion ein positives Beispiel gehabt. Neue Opern sind im Theater-Alltag schwer unterzubringen, weil sie viel mehr Probenarbeit brauchen als ein „Freischütz“ und von der Angst begleitet werden, dass das Publikum ausbleibt.
Als Henze seinen Platz in der Opernwelt eroberte, müssen Sie grade Schüler gewesen sein. Wie haben Sie ihn wahrgenommen?
Damals war Henze ein Schocker, viel mehr als Stockhausen. Ich kann mich noch erinnern an den Skandal, den in Hamburg sein „Floß der Medusa“ auslöste – da war ich dabei!
Das galt aber eher den roten Fahnen und der linken politischen Gesinnung hinter dem Klang. Hat denn auch die Musik geschockt?
Aus heutiger Sicht gar nicht – da ist mancher Film-Soundtrack inzwischen mehr Herausforderung als diese Henze-Komposition. Uns Studenten wurden Fortner, Blacher, Hartmann und Henze als die großen Vier der neuen Oper vorgestellt. Was ist übrig geblieben? Spielt noch jemand Fortners „Bluthochzeit“? Da ist Henze sicher am ehesten zum Klassiker geworden.
Woran liegt das?
Sicher auch daran, dass eine damals herausfordernde Oper wie „Die Bassariden“ heute fast wie später Richard Strauss gehört wird. Aber vielleicht mehr noch an den Sujets. Henze hatte oft gute Geschichten aus großer Literatur und griffige Textvorlagen wie „Der junge Lord“.
Das kam später, am Anfang bei „Boulevard Solitude“ ging es ja in Richtung Duplikat...
Stimmt, die Konkurrenz anderer „Manon Lescaut“-Opern war ein Grund, wenn dieses Henze-Werk trotz seines Erfolgs fast wieder vergessen wurde.
Auch von Nürnberg, wo ansonsten bis in die neunziger Jahre ungewöhnlich viel Henze auf dem Spielplan stand. Warum ist es jetzt sinnvoll?
Sicher auch, weil wir mit den Sängern Heidi Elisabeth Meier und Tilman Lichdi zwei exemplarische Besetzungsmöglichkeiten haben. Beim Stück selbst ist nichts, was den Zuhörer noch schrecken könnte. Das ist gutes „Musiktheater“ mit deutlicher Betonung des zweiten Wortes.
Bei einem Dirigenten klingt diese Äußerung gar nicht nach Kompliment...
Sagen wir mal so: Die Musik von „Frau ohne Schatten“ kann ich auch ohne Szene ganz hören. Bei „Boulevard Solitude“ würde ich das nicht länger als eine halbe Stunde tun, da ist das Bild dazu nötig.
Sie haben mehrere Werke von Wolfgang Rihm uraufgeführt, auch „Cornet Rilke“ von Matthus. Und Ihr bisheriges Verhältnis zu Henze?
Dessen große Sinfonia hatte ich in jungen Jahren auf Einladung von Hans Gierster hier in Nürnberg dirigiert – in einem dieser Groß-Konzerte von Philharmonikern und Symphonikern, die jetzt nicht mehr gewollt werden. Aber damals war ich selber noch ein Baby.
Lange galt Henze als feste Größe, um die viele Satelliten kreisten. Regelmäßig sorgten Uraufführungen für Diskussionen. Ist es das, was in der Oper 2008 fehlt – der Pate als Zeitgenosse im Zentrum?
Es wird ja viel geschrieben, aber es bleibt nichts. Es gibt immer mal wieder Ansätze, doch die Spuren sind nicht tief genug. Sowas wie der „Wozzeck“ war in den letzten Jahrzehnten leider nicht dabei, wenn es um Neues ging.
Gibt es für Sie dennoch in der jüngeren Vergangenheit Entdeckungen nachzuholen?
Schreker und Zemlinsky haben wir inzwischen zurück auf die Bühne gebracht und vielleicht sollten wir Karl Amadeus Hartmanns „Simplicius Simplicissimus“ wagen. Die Grundvoraussetzung sind exemplarische Aufführungen, die es ernst meinen mit der Vorlage. Ich gehe dem Orchester grade ziemlich auf den Wecker, weil ich den Henze ganz genau so will wie er geschrieben ist und die Meinung nicht akzeptiere, dass man Unterschiede nicht hört. Zur großen zeitlosen Moderne müssen wir dann sowieso wieder.
Was wäre das?
Ich werde sicher hier in Nürnberg eine der epochalen Opern von Alban Berg machen.
Sie kommen viel in USA herum, wo Vertonungen populärer Stoffe wie „Endstation Sehnsucht“ von Previn entstehen. Fällt da etwas ab für die Opern-Gegenwart in Europa?
Wenig, sehr wenig! Das geht bei den Amerikanern alles sehr in Richtung Musical.
Oder kommen noch Impulse vom einstigen Boom der Opern-Minimalisten wie Adams und Glass?
Wenn Sie mich da als Musiker fragen, muss ich sagen: Diese Zeiten sind seit Jahrzehnten vorbei, auch wenn gelegentlich in Deutschland noch Reste auftauchen. Perlen sind eben selten.
Dieter Stoll
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