Charlotte Knobloch über Antisemitismus: Wir fühlen uns oft allein gelassen

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde über Judenfeindlichkeit, den Echo und ihre Forderung an die Zivilgesellschaft.
von  Natalie Kettinger

München - Die gebürtige Münchnerin Charlotte Knobloch (85) ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.

AZ: Frau Knobloch, in diesen Tagen jährt sich die Gründung des Staates Israel zum 70. Mal. Wie haben Sie dieses historische Ereignis damals erlebt?
Charlotte Knobloch: Die jüdische Bevölkerung hier in München - es waren ja meist Überlebende, die nur eine kurzfristige Bleibe gesucht haben, um dann in verschiedene Länder auszuwandern - hat sich in der Möhlstraße versammelt, da war das sogenannte jüdische Komitee, und auf die Rundfunkübertragung mit der Verkündung Ben Gurions gewartet, dass Israel ein selbstständiger Staat wird - und sie ist gekommen. Ich höre immer noch Ben Gurions Stimme.

Wie haben die Leute reagiert?
Mit unglaublichem Jubel. Es war ohrenbetäubend. Plötzlich war Musik da, es wurde getanzt. Es war ein ungemeiner Freudentag.

Was bedeutet das Jubiläum heute für Sie?
70 Jahre Israel - das ist für mich eine große Freude. Nicht nur, weil eine meiner Töchter dort lebt, drei meiner Enkelkinder und zwei Urenkel. Es freut mich, dass sie ihrer Heimat sehr verbunden sind - so wie ich meiner Heimat sehr verbunden bin: München, Bayern, der Bundesrepublik Deutschland, in der Form, wie sie sich jetzt Gott sei Dank wieder darstellt.

Charlotte Knobloch: "Auch in München treffen Juden Vorsorge, um auszuwandern"

Und Israel?
Israel ist heute das Land, in dem Juden, wann immer sie verfolgt, diskriminiert oder ausgewiesen werden, eine Heimat haben. Sie können jederzeit einwandern. Wenn es das schon früher gegeben hätte, hätte meine Großmutter überlebt und sechs Millionen Juden wären von diesen Morden verschont geblieben. Das ist für mich sehr, sehr wichtig - gerade in der heutigen Zeit, wo sich wieder viele Juden wegen des wachsenden Antisemitismus Gedanken darüber machen, ob sie nach Israel auswandern. Ich weiß, dass auch in München schon einige Vorsorge dahingehend treffen.

Laut Statistik ist die Zahl antisemitischer Straftaten leicht gesunken. Man hat aber das Gefühl, die Judenfeindlichkeit nimmt zu. Wie lässt sich der Widerspruch erklären?
Die Statistik ist das eine, die Realität sieht leider oft anders aus. Die Dunkelziffer ist hoch. Der Antisemitismus hat nie aufgehört. Darauf habe ich schon seit Jahren aufmerksam gemacht. Aber heute ist er kein Tabu mehr, er ist rechts, links, unter Muslimen und in der Mitte der Gesellschaft vorhanden. Juden stehen heute im Blickpunkt, im Kreuzfeuer. Trotzdem wird der Antisemitismus von der Politik und der Gesellschaft nicht so behandelt, wie es nötig wäre. Wir fühlen uns oft allein gelassen.

Was wünschen Sie sich?
Dass die Kirchen, die Kommunen, die Vereine und Verbände, die vielen verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, die Politiker - parteiübergreifend - das Wort ergreifen und sagen: Meine Herrschaften! Das "Nie wieder" ist ein Thema, das uns gerade in Deutschland unglaublich angeht. Wir können das nicht zulassen! Ich fordere mehr Engagement gegen Antisemitismus - und für die jüdischen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.

Der Bundestag hat Antisemitismus gerade parteiübergreifend verurteilt.
Ja, wir erhalten Zuspruch und Rückhalt seitens der politischen Elite. Doch es klafft eine Kluft zwischen politischer Räson und gesellschaftlicher Realität. Da muss die Politik noch stärker ihre Haltung vermitteln und die Bürger direkt ansprechen.

Wie genau meinen Sie das?
Es ist vielleicht nur ein Traum, aber es könnte wirken, wenn auf den unteren Ebenen, von Mensch zu Mensch, die Kommunen, die Kirchen et cetera, die vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen den Antisemitismus geschlossen verurteilen, nicht nur in Sonntagsreden. Wenn sie die Menschen fragen: "Was macht Ihr da? Ihr tut Euch doch keinen Gefallen, wenn Ihr da mitmacht und eine AfD wählt, die von Rechtsradikalismus nur so beseelt ist, oder linke antisemitische Parolen grölt, oder das Werk von Islamisten verrichtet. Ja was ist denn los?" Ich höre davon zu wenig.

Gehört haben Millionen Menschen die antisemitischen Texte der Rapper Kollegah und Farid Bang, die mit dem höchsten deutschen Musikpreis geehrt wurden.
Wir haben uns, schon bevor diese Veranstaltung stattgefunden hat, ganz intensiv mit der Thematik befasst, haben dagegen protestiert und gefordert, dass solcher Hass nicht in Musik und Jugendkultur einziehen darf. Die Nominierung blieb - und dann wurde der Hass dieser Leute auch noch ausgezeichnet. Und jetzt schreibt mir der Veranstalter, Herr Drücke, er habe einen großen Fehler gemacht. Davon habe ich nichts.

Aber Sie sind jetzt Fan von Campino, oder? Immerhin hat er die Ehrung der beiden Rapper noch auf der Bühne kritisiert. Als einziger.
Die Toten Hosen sind ja von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf schon ausgezeichnet worden. Die Toten Hosen sind okay - aber Campino hätte den Preis vielleicht doch nicht annehmen dürfen. Aber er hat Mut gehabt und Haltung gezeigt. Genau wie alle, die den Preis zurückgegeben haben. Absolut. Trotzdem: Dass diese Veranstaltung so durchgeführt wurde, ist ein wahnsinniger Makel, den Deutschland jetzt tragen muss und der im Ausland entsprechend beurteilt wird. Für diese Story gibt es dort überhaupt kein Verständnis - und wieder hat die Politik versagt.

Der Echo wird abgeschafft. Empfinden Sie Genugtuung?
Nein. Ich bin froh, dass es offenbar doch noch rote Linien gibt. Leider hat man sie erst gesehen, nachdem man sie überschritten hat. Das Problem Antisemitismus und allgemein Menschenverachtung ist leider heute wieder ein echtes Problem in Deutschland. Das wissen wir. Das spüren wir. Hehre Worte helfen nicht. Wir brauchen Taten. Jeder Einzelne trägt Verantwortung im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Echo-Veranstalter haben ihre Verantwortung nicht erkannt und sind so zum Teil des Problems geworden. Der Echo hatte sich schon am Abend der Verleihung abgeschafft.

Auch Bayern bekommt einen Beauftragten gegen Antisemitismus

Mit Felix Klein gibt es den ersten Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Worin sehen Sie seine Aufgabe?
Wäre er schon in Amt und Würden gewesen, hätte er sofort die juristischen Fragen lösen müssen, um eine solche Verleihung nicht stattfinden zu lassen, sie möglicherweise zu verhindern. Er hat zu überwachen, dass solche antisemitischen, antiisraelischen, antizionistischen Vorfälle - das ist letztlich alles dasselbe - nicht stattfinden oder sofort sanktioniert werden. Er muss den Kampf gegen Antisemitismus koordinieren und kontrollieren. Und er muss das jüdische Leben fördern und unterstützen. Selbstverständlich kann er kein Wunder vollbringen. Aber es ist gut, dass es so jemanden gibt - obwohl ich sehr traurig bin, dass ich erleben muss, dass es eines solchen Beauftragten bedarf.

Bräuchte auch Bayern einen solchen Beauftragten?
Wir werden einen bekommen.

Zentralratspräsident Josef Schuster hat gerade in einem Interview gesagt, er würde einem Juden heutzutage davon abraten, mit Kippa durch eine deutsche Großstadt zu laufen.
Ich war unlängst im Presseclub und sehe dort einen Herrn sitzen - mit Kippa! Ich kenne ihn schon lange, aber ich habe ihn nie mit Kippa gesehen. Also bin ich auf ihn zugegangen und habe gefragt, ob das nur ein Zufall sei. Er sagte, nein - in der heutigen Zeit sei es sehr wichtig, dass man eine Kippa trägt. Und dann kam etwas, was ich toll finde: "Meine Frau", erzählte er, "hat gesagt, ich soll das nicht machen. Sie hat Angst. Aber meine erwachsenen Kinder haben mir zugeredet - und ich mache das jetzt jeden Tag." Und dann spazierte er über den Marienplatz davon, mit Kippa. Das ist Mut! Das sind Ansätze! Das hat mich tief beeindruckt. Wir dürfen uns nicht verstecken. Nie wieder. Die Unterdrückung darf nicht siegen, sondern die Freiheit.

Würden Sie anderen auch dazu raten?
Letzten Endes muss das jeder mit sich selbst ausmachen. Aber es kann natürlich in der heutigen Zeit, mit der arabischen Zuwanderung, aber auch wegen der Radikalisierung am rechten und linken Rand, gefährlich werden. Das wäre vor fünf, sechs Jahren noch anders gewesen.

Welchen Anteil daran hat die Zuwanderung?
Die Zuwanderung hat das natürlich gefördert. Viele der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung zu uns geflohen sind, werden im Hass auf Juden erzogen. Das führt dann zu Exzessen, wie wir sie in Berlin erlebt haben und hoffentlich hier nicht erleben werden. Hinzu kommt: Bei den Zuwanderern geht es ja nicht nur um die Juden, es geht auch um Frauen, um die Ablehnung unserer Freiheit und unserer Demokratie. Sie umzustimmen, wird eine große Aufgabe werden, und ob sie gelingt, weiß ich nicht. Aber das Problem gibt es nicht erst seit 2015. Über Jahrzehnte sind Parallel- und Gegengesellschaften entstanden, in denen unsere Werte nicht geachtet und gelebt werden.

Laut Statistik kommen 94 Prozent der antisemitischen Angriffe nicht von Muslimen, sondern von rechts.
Antisemitische Straftaten werden automatisch als rechtsradikal zugeordnet, wenn keine weiteren Spezifika erkennbar und keine Verdächtigen bekannt sind. So entsteht eine verzerrte Statistik. Wir wissen: Die Täter kommen von rechts und auch von links und das muslimische Gewaltpotenzial darf nicht übersehen werden. Deshalb muss man sehr aufpassen - und handeln, wenn irgendetwas passiert oder irgendetwas geplant ist.

Volker Kauder will, dass Lehrer antisemitische Übergriffe an Schulen melden. Andere verlangen, Flüchtlinge wie derjenige, der in Berlin einen Kippa-Träger angegriffen hat, sollten ausgewiesen werden. Was fordern Sie?
Genau diese Richtung. Ich bin absolut dafür, solche Personen auszuweisen, die nicht bereit sind, unsere Werte anzuerkennen. Wir müssen uns wehren, mit unseren Gesetzen im Rahmen des Rechtsstaats.

Und an den Schulen?
Volker Kauder hofft natürlich, dass diejenigen, die eine solche Unruhe verursachen, nicht so aktiv werden, wenn sie befürchten müssen, dass es gemeldet wird. Ich sehe das als Vorsichtsmaßnahme.

"Ich wünsche mir, dass die AfD eine Randfigur bleibt"

Kennen Sie solche Fälle auch aus München?
Ja. Schon vor vier Jahren kam - an einem sehr arrivierten Münchner Gymnasium - eine Schülerin aus der Pause zurück und jemand hatte "Judensau" auf ihr Pult geschmiert. Ich habe ihr sofort eine andere Schule gesucht - doch obwohl man herausbekommen hat, wer das getan hat, ist derjenige nicht von der Schule verwiesen worden. All diese Dinge sind schon älter, und ich habe immer wieder darauf hingewiesen. Aber man hat zu lange gewartet. Man hat die Demokratie sehr strapaziert.

Wie finden Sie es - als jemand der der CSU durchaus nahesteht -, wenn Seehofer einem Rechtsnationalen wie dem ungarischen Präsidenten Orban überschwänglich gratuliert?
Orban ist Orban, keine Frage - aber er ist demokratisch gewählt. Daran kommen wir nicht vorbei. Man wird ihn nicht verändern. Warum sagt man nicht dem Volk die Meinung? Das Volk hat ihn gewählt! Zum zweiten Mal. Eigentlich hat es das Volk in der Hand, die Probleme, die sicherlich vollkommen undemokratisch sind, zu beenden. Und wenn dann einer meint, er muss ihm gratulieren, soll er ihm gratulieren.

Mitte Oktober ist Landtagswahl. Was erhoffen Sie sich?
Auch hier wählt doch ein Teil des Volkes die AfD mit ihren antisemitischen und antidemokratischen Aussagen. Da hat sich bislang niemand darum gekümmert, die konnten reden, was sie wollen. Wir müssen schauen, dass die Bevölkerung einen klaren Kopf hat - und diese Partei nicht wählt. Leider weiß ich nicht, ob wir die Menschen so überzeugen können, dass die AfD nicht in den Landtag kommt. Aber ich setze sehr darauf, dass die Medien helfen, die Kirchen, die Vereine, für die Demokratie zu werben! Da muss etwas geschehen! Der Oktober ist schnell da - und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die AfD eine Randfigur bleibt und dass die demokratischen Parteien dieses Land weiterregieren. Egal, in welcher Konstellation - Hauptsache: ohne AfD.

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