Charleys Tante und Godot
Nürnberg - Gelungene Premiere der Groteske vom „Goldenen Drachen“ in den Nürnberger Kammerspielen: Kein Witz ist unmöglich
Eins ist sicher: Wer diese Nürnberger Aufführung gesehen hat, wird nicht mehr unbefangen auf süßsaure Enten blicken können! Denn Roland Schimmelpfennigs appetitzügelnde Groteske „Der Goldene Drache“ – in Wien, an der Ruhr und sogar bei der Kritiker-Umfrage von „Theater heute“ 2010 als „Stück des Jahres“ gefeiert – führt in ein China-Restaurant mit schäbigem Mietshaus drumherum. Dazu hat der Autor gleich noch die Grenzen zwischen Mann und Frau, Alt und Jung, Tief- und Blödsinn aufgehoben. Was, wie Petra Luisa Meyers Inszenierung in den Kammerspielen per Kompakt-Komik recht wirkungsvoll zeigt, fünf Schauspielern einen ungewöhnlichen Auftrag verschafft: Sie beobachten Charleys Tante beim Warten auf Godot.
Es beginnt mit einer Überdosis Lächeln, denn die Küchen-Brigade kommt lärmend durchs Parkett und setzt zum Begrüßungslied an. Innerhalb von fünf Minuten fliegen dem Zuschauer alle Klischees um die Ohren, die er über Asiaten gespeichert hat. Dann beginnt der Schmerz. Der Jüngste im Schwarzarbeiter-Team hält sich jammernd die Backe, und der Chefkoch beschließt zwischen zwei Köstlichkeiten: „Der Zahn muss laus!“. Eine Rohrzange bringt Erlösung: Ehe der Patient daran verblutet, kann er über seine Zahnlücke mit den Verwandten in der Ferne kommunizieren. Alles klar bis hierher? Das ist aber nur ein Handlungsstrang, denn gleichzeitig begegnet man im „Drachen“-Haus auch Flugbegleiterinnen, Liebespaaren, Opa und Enkelin, vor allem aber einem drastischen Sozialdrama zwischen Grille und Ameise, in dem das Problem der Prostitution mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet wird. Zwischendurch bleibt der Blick immer wieder an der winzigen Küche hängen, wo die Schauspieler bei ihren Hechtsprüngen durch unterschiedlichste Kostüme atemlos zwischenlanden.
Roland Schimmelpfennigs „Drachen“-Stich ist eine vollmundige Spätlese des absurden Theaters. Unerschrocken hantiert er mit Klamaukseligkeit und Verfremdung, reflektiert geradezu hämisch den Blick des Zuschauers, lässt aber im größten Jux todernste Töne durch den Tumult schimmern. Er skizziert Komik und Tragik wie auf der Kippe ins jeweils andere Fach. „Geh doch putzen“, sagt die fleißige Ameise zur hungrigen Grille – und schickt das exotische Wesen dann zum Anschaffen. Da werden Gedanken wachgekitzelt.
Ein kleines Wunder ist Bühnenbildner Stefan Brandmayr gelungen, denn er baute ein zweistöckiges Haus auf die berüchtigt flache Kammerspiel-Bühne. Dort müssen die Personen dauernd geduckt über winzige Treppen und durch niedrige Räume klettern. Die flotte Regie von Petra Luisa Meyer setzt auf die Durchschlagskraft der Darsteller. Da wird einiges geboten, wenn Michael Hochstrasser auf High Heels balanciert, Pius Maria Cüppers im roten Abendkleid antritt und beide zum Stewardessen-Duo werden während Jutta Richter-Haaser zwischen Blond-Teenie und Rüpel pendelt. Zusammen mit Philipp Niedersen und Josephine Köhler (er etwas zu blass, sie etwas zu übermotiviert) sind sie als Kollektiv die gackernde Schicksalsgemeinschaft von Überlebenskünstlern.
Man könnte sich das Spektakel etwas weniger polternd vorstellen, die Inszenierung mit mehr Mut zur komödiantischen Hochseil-Artistik, die Gruppendynamik strenger choreographiert. Aber das ändert nichts am Erfolg der Aufführung, die sich ihren Weg durch die Groteske wie ein deutscher Gast beim Menü im Goldenen Drachen freischaufelt nicht mit Stäbchen, lieber mit Messer und Gabel. Die Wellen der Heiterkeit führten zu Beifall und Bravo-Rufen. Einer Sammelklage von China-Restaurants sieht das Staatstheater gelassen entgegen. Dieter Stoll
Nächste Vorstellungen: 31. Dezember; 10., 18., 28., 30. Januar
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- Prostitution