BRK-Präsident: "Die Impfzentren zu schließen, war sicherlich ein großer Fehler"

AZ-Interview mit Theo Zellner: Der 72-Jährige ist Pädagoge und CSU-Kommunalpolitiker. Seit 2013 ist er Präsident des Bayerischen Roten Kreuzes - am Sonntag wird sein Nachfolger gewählt.

AZ: Herr Zellner, die Corona-Lage beschäftigt Deutschland und das Rote Kreuz ganz besonders. Viele fühlen sich angesichts der hohen Inzidenzen und vollen Intensivstationen an den vergangenen Winter erinnert. Haben Sie auch ein Déjà-vu?
THEO ZELLNER: Ein Déjà-vu nicht, aber eine riesige Enttäuschung. Ich bin der Meinung, dass man aus den Erfahrungen der Zeit seit Frühjahr 2020 und auch aus dem letzten Winter hätte lernen müssen. Man hat die Zeit nicht genutzt. Wir vom Roten Kreuz haben das ganze Jahr über gemahnt, dass, wenn im Januar oder Februar geimpft wird, wie es ja bei den vulnerabelsten Gruppen der Fall war, wir dann auch dringend die dritte Impfung brauchen. Das wusste man.
Und dann?
Statt zu schauen, was man mit allem Nachdruck für diese dritte Impfung tun kann, hat man überlegt, wie lange man noch Impfzentren finanzieren und offen lassen kann. Das ist ein Riesenfehler gewesen.
Zellner: "Das Gesundheitssystem ist bedroht"
War das Schließen der Impfzentren aus Ihrer Sicht der größte Fehler im Pandemiemanagement?
Es war sicherlich ein großer Fehler. Ein weiterer war, den Blick viel zu sehr auf Lockerungen zu lenken, vor allem in den Innenbereichen. Thema Schule: Zu sagen, man macht die Schulen wieder auf ohne Maskenpflicht, fand ich schwierig. Die Kinder gehen mit diesen Masken sehr gut um. Und auch die Schulen wieder zu öffnen, ohne für die Kinder einen Impfstoff zu haben, fand ich nicht nachvollziehbar. Wir als Rotes Kreuz haben die Politik nicht zu beurteilen, wir vollziehen, was die Entscheidungsträger sagen. Aber ich erwähne diese Dinge ganz besonders, weil das Gesundheitssystem bedroht ist und wir im Roten Kreuz Tausende von Pflegerinnen und Pfleger haben, die seit fast zwei Jahren permanent an der Grenze der Belastbarkeit sind.
Zellner: "Der Krisenfall ist bei uns inzwischen Tagesgeschäft"
Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Pflegenden?
Sie machen weiter, obwohl sie eigentlich nicht mehr können. Sie leben nicht bloß in der Angst, selbst zu erkranken, sondern sie sind enttäuscht, sie sind zornig, sie sind frustriert. Weil das, was wirklich zu tun wäre, vom Impfen bis zu Teil-Lockdowns, zu spät passiert ist. Wir sind es im Roten Kreuz gewohnt, in Katastrophenfällen zu arbeiten, aber diese sind normalerweise endlich. Inzwischen ist der Krisenfall bei uns Tagesgeschäft. Und das kann einfach nicht sein. Deshalb sage ich ganz bewusst als Noch-Präsident des BRK, ein Verband mit 180.000 Ehrenamtlichen, 30 000 Hauptamtlichen, 800.000 Fördermitgliedern: Ich habe jeden Respekt vor jenen verloren, die sich trotz besseren Wissens und ausreichender Belege durch die Wissenschaft nicht impfen lassen. Wir sind an einer Grenze im Gesundheitssystem, an der Dinge nicht mehr behandelt werden können, die dringend notwendig sind. Und in den Bereichen der Intensivstationen, in denen beatmet wird, sind eben mehr als 90 Prozent nicht geimpft.
Was muss aus Ihrer Sicht geschehen?
Die nun getroffenen Bund-Länder-Beschlüsse gehen in die richtige Richtung. Es muss so schnell wie möglich eine allgemeine Impfpflicht geben. Wenn wir nicht nochmal so einen Winter bekommen wollen wie jetzt, gibt es keine andere Möglichkeit. Eigentlich sollte es doch selbstverständlich sein, dass die Freiheit des Einzelnen da aufhört, wo die Gesundheit des Nächsten gefährdet ist. Seit Monaten bestimmen den Rhythmus diejenigen, die nicht geimpft sind. Jetzt ist die Bürgerpflicht gefragt, um die anderen zu schützen.
Eine Impfpflicht für medizinisches Personal soll kommen. Einige Einrichtungen fürchten, dass ungeimpfte Pflegekräfte dann nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Wie sieht es im BRK aus?
Wir haben eine relativ hohe Impfquote, in meinem Kreisverband Cham zum Beispiel liegt sie bei über 90 Prozent. Aber ich bin schon der Meinung: Wenn, dann bitte eine allgemeine Impfpflicht.
Zellner: "Es muss eine Pflegereform kommen"
Ist die Impfpflicht für Altenheime und Krankenhäuser also der falsche Weg?
Nein, natürlich nicht. Es ist wieder ein Schritt, aber eben ein Schritt zu wenig. Wenn man jetzt in diesen Bereichen eine Impfpflicht einführt, sind zwar diejenigen in den Einrichtungen geschützt. Aber damit ist ja das Thema Überlastung des Gesundheitssystems nicht erledigt. Deswegen erscheint es mir nicht logisch.
Auch vor Corona war die Personalnot in der Pflege groß - ist das Dilemma um die Impfpflicht also hausgemacht?
In der Tat war die Pflege auch schon vor Corona ein Riesenthema. Deswegen brauchen wir endlich eine Pflegereform, die diesen Namen verdient.
Zellner: "Wir brauchen die Attraktivität des Pflegeberufes"
Wie könnte die aussehen?
Mit dem Danken allein ist es nicht mehr getan. Wir haben Bereiche in der Politik, in der gibt es steuerfreie Aufwandspauschalen. Eine solche Pauschale über von mir aus 5.000 oder 6.000 Euro jährlich brauchen wir auch für die Pflegenden - als besondere Anerkennung dessen, was nicht nur zurzeit, sondern insgesamt in der Pflege geleistet wird. Und schon als ich noch Landrat war, haben wir über Pflegeschlüssel verhandelt. Wenn wir wollen, dass ein Pflegender nicht in bestimmten Situationen für zehn Leute zuständig ist, dann müssen wir die Pflegeschlüssel runterschrauben. Wir brauchen gute Arbeitszeiten, Gesundheitsmanagement, und wir brauchen die Attraktivität des Berufes. Wenn ich weiß, dass zum Beispiel in technischen Berufen wie der Mechatronik immer noch 20 Prozent mehr bezahlt wird, dann brauchen wir einfach ein anderes Ranking. Wenn wir irgendetwas aus dieser Pandemie lernen können, dann, dass die Pflege noch mehr in den Mittelpunkt der politischen Diskussion kommt.
Blicken wir auf die Zeit vor Corona: Sie waren acht Jahre lang BRK-Präsident. Welche Momente bleiben Ihnen in Erinnerung?
Mein Ansatz war immer, aus Katastrophenlagen zu lernen. Natürlich bleiben die Bilder von den Taten am Olympia-Einkaufszentrum, in Ansbach oder Würzburg. Ich erinnere mich, dass bei dem Anschlag in Ansbach einer unserer Leute bei einem Verletzten kniete und ihn behandelte. Neben ihm lag ein Rucksack von einem der Attentäter. Diese Gefahr war greifbar: Passiert da nochmal was? Explodiert da nochmal was? Die Folge dieser Situation war ja unter anderem, dass wir mit staatlicher Unterstützung in Windischeschenbach unser Trainingszentrum für besondere Einsatzlagen schaffen konnten.
Zellner: "Ich bin ein sehr emotionaler Mensch"
Sie waren 2015 auch in Wegscheid an der österreichischen Grenze vor Ort, als Zehntausende Geflüchtete kamen.
Ich bin in der Nacht nach Wegscheid gefahren und habe gesehen, wie Tausende aus den Bussen ausgestiegen sind. Und wenn diese Menschen dann plötzlich nicht mehr anonym sind, sondern du die Gesichter der Menschen siehst, fällt es schwer, deine Emotionen zurückzuhalten. Das kann ich ohnehin schlecht, ich bin ein sehr emotionaler Mensch. Aber trotzdem muss man dann ins Handeln kommen. Und natürlich erinnere ich mich an die Hochwasserkatastrophe von Simbach, wo auch einer unserer Rotkreuzler ertrunken ist. Wir haben dann mit einer Million Euro Förderung aus Berlin eine Stelle in Simbach eingerichtet, bei der die Menschen bei bürokratischen Gängen und auch psychologisch betreut werden.
Fällt es Ihnen schwer, zu gehen?
Eigentlich nicht. Ich bin angetreten mit der Absicht, zwei Amtszeiten zu machen und denke, wir konnten vieles auf den Weg bringen. Natürlich gibt es Herausforderungen, die bleiben, seien es die Pflege oder die Förderung des Ehrenamtes. Aber ich bin vor allem dankbar, dass ich eine so wichtige Organisation wie das BRK eine Zeit lang begleiten durfte. Das ist ein Gewinn für mein Leben.