Brief an einen toten Junkie

NÜRNBERG - In unserem kurzatmigen SMS-Zeitalter nehmen sich lange, wohlüberlegte Briefe mittlerweile sonderbar aus. Und ganz singulär wirkt gar ein so neuartiger wie verstörend direkter Briefroman, wie er Katja Lange-Müller mit „Böse Schafe“ (Kiepenheuer & Witsch, 205 S., 16,90 Euro) gelungen ist.
Ist dies zudem noch ein zeitverzögerter Brief, der als ungewöhnlichen Adressaten einen Toten hat, wie das bei der 57-jährigen Berliner Schriftstellerin (Mittwoch, 20 Uhr, im Nürnberger Literaturhaus) der Fall ist, dann darf man sich gleich in mehrfacher Hinsicht wundern.
Zunächst einmal, weil dieser Brief einem vor Jahren Verstorbenen, wahnsinnig Geliebten gilt, der zudem in der hohen Literatur eher selten Objekt liebender Verehrung ist: Einem Junkie! Zweitens fragt man sich auch, wozu die Erzählerin bei diesem langen intimen Brief an ihren geliebten Toten den Leser braucht, warum sie das Private öffentlich macht. Da man annehmen muss, dass eine kluge Autorin wie Katja Lange-Müller mehr schreiben wollte als ein weiteres Buch über eine unmögliche leidenschaftliche Liebe, welches in der Literaturgeschichte seit Johann Wolfgang von Goethe „Werther“ viele Male geschrieben worden ist, kommt man zunächst ins Grübeln.
Gemeinsame Analyse der rätselhaften Tragödie
Weil man zweitens erkennt, dass Lange-Müller keineswegs den wahnsinnigen Versuch unternimmt, auf poetische Weise die hellsichtigsten jüngsten Theorie-Versuche über moderne Liebesverhältnisse – zuletzt Eva Illouz und ihre brillante Arbeit „Der Konsum der Romantik“ (2003) – zu überholen, kommt man zum Schluss, dass die Erzählerin an den Leser als Komplizen, Seelentröster und Mit-Detektiv appelliert für eine gemeinsame Analyse der rätselhaften Tragödie, die der lange Selbstmord ihres schweigsamen Geliebten Harry ist. Weil die Liebe von Heldin und Briefschreiberin Soja zu Harry gleichzeitig von soviel erfüllter Gegenwart und gleichzeitig rätselhafter Dichte war, versucht die Erzählerin mit gehörigem Abstand das Schweigen zum Sprechen zu bringen, in dem sie ihre Fragen laut und präzise stellt.
Dabei hilft ihr auf sehr indirekte Weise ein Konvolut von Aufzeichnungen Harrys, das sie kurz nach seinem Tod findet. In diesen ebenso lakonischen wie erschütternden Notizen wird die Ex-Geliebte zu ihrer Empörung mit keinem Wort erwähnt. Das lässt sie zunächst an dessen Liebe zweifeln – und dennoch ist diese Auslassung als Liebesbekenntnis Harrys sprechender als viele Worte. Was der immer noch liebende Blick auch aus weiter Entfernung nicht zu sehen vermag, erkennt man als Leser mit einem plötzlichen Erkenntnis-Sprung: Noch in seinem Tod besteht der Junkie Harry, der in langen Jahren im Gefängnis gelernt hat, was es heißt nicht wirklich ein Privatleben zu haben, darauf, dass Privates der Wortbedeutung nach „der Öffentlichkeit beraubt“ heißt.
Spark