Blutsturz in die Seifenoper
NÜRNBERG -Nürnbergs Schauspiel legt Blitz-Start hin: Die „Orestie“ des Aischylos ist ein Triumph für das Ensemble und Regisseur Georg Schmiedleitner
Am Ende dieses klassischen Rachefeldzugs auf der Familien-Blutspur gerät das Entsetzen in den Scherz – und bekommt ausgerechnet beim höllischen Gelächter hinter der Happy-End-Fassade seine schmerzhaftesten Erkenntnisse. „Frieden für immer“ wird da floskelfreudig ausgerufen, wenn die manipulationstüchtigen Gottheiten fürs grummelnde Volksempfinden den klitzekleinen Kompromiss der Demokratie gefunden haben. Regisseur Georg Schmiedleitner, der in den ersten Teilen der Aischylos-Trilogie, der Ermordung des heimkehrenden Königs durch seine Frau und die Blutrache an ihr durch den Sohn, alles nah am Original entwickelte, wagt sich hier weit aus der Deckung – und triumphiert. Keine Minute der knapp vier Stunden dauernden Aufführung ist zuviel! Das Publikum jubelte heftig.
„Das geht euch alle an!“ sprayt das Allzeit-Kollektiv (Jugend-Theaterclub im Großeinsatz) an die Wand. Stimmt, aber wir hätten es auch so gemerkt. Denn Schmiedleitner führt seine Inszenierung des Kolossal-Klassikers, die Peter Steins stelzenfreie Übersetzung nutzt, an starken Sinn-Bildern entlang. Auf der Bühne der Tafelhalle baut er im rieselnden Regen herausfordernd die Orgie aus Schuld und Sühne auf, eine Karussellfahrt von Opfern und Tätern.
Die Bühnenbilder von Stefan Brandtmayr, Sammelplatz für die Bündelung vieler Eindrücke, gönnen jedem Teil der Trilogie das eigene Erscheinungsbild. Auf die Feuchtgebiete an der Eheschlachtschüssel folgt die Schein-Idylle der Befriedung. Ein Himmel voller Mikrophone, die mit Lilien geschmückt sind wie Gewehre auf romantisierenden Revolutionsbildchen, lässt den jungen Orest auf einer Art Karaoke-Spur dem Rächer-Sound entgegen taumeln. Wenn die Tat vollbracht ist, flieht er mit Hilfe von Junior-Gott Apollon vor den keifenden Fundis, die auf einer nächsten Runde Totschlag fürs blutige Pendel der Ehre bestehen. Göttin Athene lässt es gut sein mit dem Geschenk demokratischer Regeln, die unverkennbar Spiel-Regeln sind.
An dieser Stelle mag sich die Inszenierung nicht pathetisch aufrichten, sie sucht die Wahrheit in gleißender Satire. Dort steckt sie auch. Athene (eine geradezu schwebende Julia Bartolome, zuvor als Chorführerin und Elektra intensiv bis in die Fingerspitzen) unterbricht Hollywood-Träumereien und lenkt mit Kollege Apollon aus der Playboygroup (Marco Steeger spreizt wunderbar den blasiert gewissensfreien Advokaten) die Weltgeschichte in ein neues Kapitel. Ob dies die Erfindung der Gerechtigkeit war oder bloß die Geburtsstunde der TV-Soap – wer will das entscheiden. Schmiedleitner nicht. Solange sein Chor der schnappenden Erinyen wie ein Zombie-Quintett gegen das bisschen Frieden agitiert, liegt der Fluch der Karibik über der Antike.
Der an- und aufregende Umgang mit allen technischen Möglichkeiten der Tafelhalle ist die Basis, auf der die Entfaltung des hier eindeutig höchstklassigen Schauspiel-Ensembles möglich wird. Elke Wollmann als Klytaimestra ist, wenn sie den mordbereiten Sohn (wuchtiger Einstand für Felix Axel Preißler) noch in größter Not mit Mama-Lyrik einseift, eine Granate aus Intrige und Ignoranz. Thomas Nunner muss für zwei Todesfälle als ihr Gatte (stolz abweisend in Uniform) und ihr Liebhaber (im Unterhemd wohl auf der Lauer nach Bratkartoffeln) nur Frisur und Blick wechseln. Jutta Richter-Haaser trifft auch als Hörbildbeschafferin im Alleingang „das Volk“, das gerne sein Maul aufreißt und dabei für nichts verantwortlich sein will, großflächig frontal. Und wenn Orest mit dem Dolch wütet, hält ihm die Amme (Heimo Essl) das Mikro hin – alles live!
„Im Zweifel für den Angeklagten“, übersülzt die Göttin ihre Rechtsbeugung – und da kann das „Unentschieden“ seinen Siegeszug antreten.
Eine gewichtige und dabei federleichte Aufführung ist geglückt – ein Blitzstart in die Saison. Dieter Stoll
Nächste Vorstellungen: 15./16., 29.10., 1./2., 5., 15./16., 20., 29.11. - Tel. 0180-5-231600.
- Themen:
- Mord