Blutsbrüder & Nervensäge

Die letzte Premierenwelle schwappt durch die Theater: Was Nürnberg, Fürth und Erlangen an Höhepunkten bis zum Saisonende planen
von  Abendzeitung
Verlegt seine „Kommunizierenden Röhren“, als Auftragswerk für Spanien entstanden, nach Nürnberg: Goyo Montero feiert mit seinem Tanzstück Premiere in der Oper.
Verlegt seine „Kommunizierenden Röhren“, als Auftragswerk für Spanien entstanden, nach Nürnberg: Goyo Montero feiert mit seinem Tanzstück Premiere in der Oper. © az

NÜRNBERG - Die letzte Premierenwelle schwappt durch die Theater: Was Nürnberg, Fürth und Erlangen an Höhepunkten bis zum Saisonende planen

Auf geht's zum Saison-Finale: Die Bühnen im Städte-Großraum zeigen in Eigen-Produktionen und fein ausgewählten Gastspielen auf den Schaumkronen der letzten Premierenwelle dieser Spielzeit 09/10 noch einmal, was Theater alles kann – wenn man es nur lässt. Unser Sortiment der Höhepunkte.

SCHAUSPIEL: Reale Feuchtigkeit ist garantiert, wenn die melancholische „Frau vom Meer" im Erlanger Regie-Debüt von Intendantin Katja Ott zur Weltschmerzgrenze tritt (ab 15. April im Markgrafentheater). Dekorative Wasserspülung für eine typische Chef-Produktion, die bei acht Darstellern mehr Personen in Bewegung setzt als es Johann Wolfgang von Goethe „Faust“ an gleicher Stelle durfte. Dazu passt das Ibsen-Gegenstück um die kaltblütige „Hedda Gabler“ mit der wahrlich großartigen Constanze Becker als Gastspiel des Frankfurter Schauspiels im Fürther Theater (18./19. Juni). Noch eine „starke Frau“: Olga Benario, eine 1908 geborene deutsch-jüdische Kommunistin in der Gefängniszelle der Nazis, steht im Mittelpunkt von „Olgas Raum“, wo sie eine eigenartige Beziehung zu ihrem Folterer entwickelt. Ein frühes Stück der heute renommierten Autorin Dea Loher (in Nürnberg durch Schmiedleitners Inszenierung von „Unschuld“, leider noch nicht durch ihr neuestes Werk „Diebe“ bekannt) mit Rebecca Kirchmann in der Hauptrolle - als letzte Premiere auf der Probebühne in der Kongresshalle (ab heute). Dem modernen Theater und seinen Auswüchsen hat Schriftsteller Daniel Kehlmann in Salzburg mächtig die Leviten gelesen und dabei bräsigen Beifall sowie wütenden Widerspruch bekommen. Ob er mit der Dramatisierung seines Bestsellers „Die Vermessung der Welt“, der die Wissenschafts-Heroen Humboldt und Gauß in Stellung bringt, zufrieden ist? In Erlangen führt Katja Ott die Produktion ihrer früheren Wirkungsstätte Braunschweig vor: 19.und 20. April. Es muss nicht immer „Werther“ sein, wenn Star-Schauspieler Philipp Hochmair ans Gostner Hoftheater zurückkehrt. Mit einem Solo nach Kafkas „Amerika“ kommt der zwischen Wien und Hamburg pendelnde Akteur am 5. und 6. Mai wieder nach Nürnberg. Eine „grandiose Liebes- und Sprachverwirrung“ setzt das Erlanger Theater parallel mit einer Bühne in St. Petersburg um. In Laura de Wecks „Sumsum“ führt ein Internet-Flirt über nationale Grenzen hinweg. In der „Garage“ gibt es die deutsche Perspektive (ab 24. Juni).

MUSICAL/ENTERTAINMENT: Ein Zwillingspaar, das in der Wiege getrennt wird und nach vielen Jahren unbewusst wieder per problematischer Jugend-Freundschaft zusammenfindet, steht in Willy Russells „Blutsbrüder“ unter Beobachtung. Einer der Jungs hat reiche (Adoptiv-)Eltern, der andere wächst unter den Armen auf. Das soziale Gefälle als ein Stoff, aus dem Herzschmerz gemacht ist. Der Autor und Komponist aus Liverpool zeigte 1983 jedenfalls, dass Musicals nicht unbedingt auf Showtreppchen und Kronleuchter angewiesen sind. Klaus Kusenberg inszeniert mit siebenköpfiger Band in der Tafelhalle (ab 22.Mai). Zuvor kreisen drei profilierte Künstler des Fürther Theaters mit einem „Abend über die Liebe“ die swingende Welt des George Gershwin ein. Thilo Wolf und seine Big Band bauen das Fundament für „Love me Gershwin“, wo Jutta Czurda in Regie von Jean Renshaw ein Song-Mosaik zum weiterhin unlösbaren Lebensrätsel Nr. 1 baut (ab 16. April). In Erlangen wird gezielt gegrölt. In der Schlager-Revue „Männer“ des „Sekretärinnen“-Coach Franz Wittenbrink treten die Herren zum gnadenlosen Rundgesang mit und ohne Promille-Ölung an. Das gab es schon am Nürnberger Schauspielhaus für knapp 30000 Zuschauer, aber jetzt eben auch etwas anders im Markgrafentheater (ab 10.Juni). Origineller ist der Auftritt von Brettl-Nervensäge Desiree Nick, denn die unerschrocken zwischen Kleinkunst und Dschungelcamp balancierende Lispel-Diseuse hat sich für „Souvenir“ die amerikanische Multimillionärin Florence Foster Jenkins vorgenommen. Eine schrille Lady, die dank ihrer Finanzen öffentliche Klassik-Konzerte veranstalten konnte, obwohl ihre Stimme den Anweisungen der Komponisten stets widerstand. Nie hört man die Koloraturen von Mozarts „Königin der Nacht“ so schräg wie auf Original-LP oder eben von Desiree Nick (am 22.April im Fürther Theater).

OPER: Nach Rossini und Donizetti landet Nürnbergs Italo-lastiges Opernhaus nun bei Verdi. Sein „Nabucco“ ist jedenfalls mehr als bloß der schunkelbare Gefangenenchor für Verona-Touristen. Immo Karaman, der hier zuletzt die Veroperung von Fellinis „Orchesterprobe“ nicht recht auf den Punkt bringen konnte, führt Regie. Philipp Pointner dirigiert (ab 29.Mai). Die letzte Saison-Premiere gehört dann Richard Strauss und seiner „Ariadne auf Naxos“. Die gab es zwar erst vor einem Jahrzehnt in einer bemerkenswerten Inszenierung von Tilman Knabe, aber für die eher überfällige „Frau ohne Schatten“ gibt es eben nicht die passenden Stimmen im Ensemble. „Aida“ Mardi Byers mag die passende Primadonna sein, Heidi Elisabeth Meier wird sicher die ideale Zerbinetta, aber ob Richard Kindley als Heldentenor richtig eingeschätzt ist? Christof Prick dirigiert die Inszenierung von Josef Ernst Köpplinger, dem Intendanten aus Klagenfurt, der auch Koproduzent für sein Haus in Österreich ist ( ab Juli). Zur Ergänzung des etwas schmalen Nürnberger Spielplans zu empfehlen: Verdis „Ein Maskenball“ als Freiburger Gastspiel mit Gerhard Markson am Pult in Fürth (5. Juni).

TANZ: Mit seiner aufgefrischten Form von Handlungsballett hat Goyo Montero das Nürnberger Publikum im Sturm erobert, jetzt lockt er erst mal ins Abstrakte. Mit „Kommunizierende Röhren“ will er, völlig frei vom fesselnden roten Faden einer Story, seine Bewegungssprache an Bachs Musik testen (ab 24. April). Noch eine wundersame Begegnung: Dirk Elwert, einst mit Jean Renshaw im Leitungs-Duo des unvergessenen Tanzwerk Nürnberg, hat das Konzept für ein „Dancical“ entworfen, in dem klassisches Ballett von Mario Schröder auf Breakdance und Street Dance trifft. „Love hurts... Petrushka“ macht Strawinsky mit DJ Opossum bekannt und den Tutu mit den Turnschuhen (10. bis 12. Juni im Fürther Theater). Dann erneut der fleißige Montero. Sobald seine Compagnie nicht mehr die Beine für „Sweet Charity“ schwingen muss, lenkt er die Tänzer in einen weniger juchzenden „Traum der Vernunft“. Bemerkenswert, weil das - im Gegensatz zu den meisten seiner bisherigen Ballett-Premieren - eine echte Uraufführung wird (ab 19.Juni).

JUGENDTHEATER: Aus dem Tagebuch ihrer Oma schöpft das Mädchen spannende Alltags-Geschichte: „Niemand heißt Elise“, ein preisgekröntes und von gleich drei Autoren verfasstes Stück, lässt Vergangenheit in der Gegenwart ankommen. Das Nürnberger Theater Pfütze im Fürther Kulturforum (ab 10. April). Und dann Dramatik nach aktuellem Tabellenstand: „Steht auf, wenn ihr Clubberer seid“, die Geschichte eines Außenseiter-Mädchens mit Hang zur Nordkurve. Autor Jörg Menke-Peitzmeyer, der dem Gostner Hoftheater mit „Essotiger“ vor drei Jahren die Vorlage zu einem Groß-Erfolg lieferte, ist ein Spezialist für Kicker-Poesie. Schrieb er doch Mini-Dramen wie „Manndecker“ (2000) und „Abstiegskampf“ (2006), aber eben auch - Achtung, Fanclubs! - im Jahr 2005 „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“. Hauptsache, es bleibt niemand sitzen, wenn Tilman Seidels mobile Inszenierung, die dann auch für Schulklassen buchbar ist, mit Nicole Raab am 9. Juni in Gostenhof ihre Premiere hat. Dieter Stoll

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