Bittere Schokoladenseiten

„Kunst und Kalter Krieg“: Imposante Groß-Schau mit Beuys, Immendorff, Richter & Co im Germanischen.
von  Abendzeitung

NÜRNBERG - „Kunst und Kalter Krieg“: Imposante Groß-Schau mit Beuys, Immendorff, Richter & Co im Germanischen.

Die Mauer ist wieder da. Pünktlich zur Gedenkpflicht (60 Jahre Staatengründung, 20 Jahre Mauerfall) steht sie elefantengrau in der Großen Ausstellungshalle. Hans Haacke ist für den trennenden Kulissenschwindel verantwortlich. Höhnend brachte er 1984 in seiner Installation „Weite und Vielfalt der Brigade Ludwig“ deutsch-deutsche Gegebenheiten in Stellung: die Reklameseiten des kapitalistischen Konsumrauschs gegen die Parolen der VEB Süßwaren, die „Solidarität mit den Kollegen im kapitalistischen Teil von Berlin“ fordern. Mittendrin als Genossen-Onkel in der Schürze der „Trumpf“-Fabrikant Peter Ludwig, der als Kunstsammler auch im Osten mit dem Einkaufswagen unterwegs war. Und dem Germanischen Nationalmuseum mit „LudwigsLust“ wenig später eine immerwährendes Besucher-Bestmarke bescherte. An diesen Erfolg könnte die üppige Retrospektive „Kunst und Kalter Krieg“ anschließen, die zwischen Los Angeles und Berlin nun in Nürnberg zu sehen ist.

Denn die 320 Bilder, Fotografien, Skulpturen, Videos und Installationen von 150 Leihgebern (von Nationalgalerie Berlin bis MoMA New York) ergeben ein kurven- und auch sonst reiches Befindlichkeitsspalier durch „Deutsche Positionen 1945 – 1989“. Samt Ikonen-Glanz, der sich über zwei Hallen bis zur Kartäuserkirche zieht. Joseph Beuys und Rosemarie Trockel, Candida Höfer, Johannes Grützke und Olaf Metzel (der Stuhlturm-Provokateur stichelt mit Hakenkreuz auf „Türkenwohnung“), Willi Sitte und Markus Lüpertz, Werner Tübke und Anselm Kiefer (statt Nürnberg-Romantik gibt’s die Mythenfalle von Varus und dem deutschen Wald), A.R. Penck und Katharina Sieverding.

Die Väter wurden verachtet, Mythen und Helden entzaubert

Die beschwört ein „Schlachtfeld Deutschland“. Was durchaus zu den Intentionen der Ausstellungsmacher passt, die pointiert in den Wunden, der Wut und den ewigen Gespenstern einer Gesellschaft bohren. Also Politik, Nazi-Trauma und RAF-Overkill herausschälen aus der Kunst, die einerseits im „sozialistischen Realismus“ festgeklopft wurde und andererseits im Pluralismus zerfaserte. Zum Auftakt der Chronologie, wo in Filmen Stalin und Kriegsgewinnler auftauchen und wo es um Trümmer und Trauer geht (schockierend etwa die Schwarzweiß-Fotos mit skelettierten Leichen aus Dresdner Feuersturm), sieht man die Anschlussbemühungen an die gekappte Moderne und die Bruchlosigkeit der Verdrängungskunst gleichermaßen. Während die Gruppe Zero um Otto Piene und Günther Uecker (vertreten mit einem markanten Nägel-Stuhl) als Devise ausgab: „Wir leben. Wir sind für alles“, träumen nebenan die „Fluxus“-Vertreter, beflügelt vom Dada-Geist, vom Eingreifen in die Gesellschaft und sehen die Sehnsucht nach dem „Kartoffelhaus“ (Sigmar Polke) fürs stille Spießerglück.

Die Künstler seien überwiegend „Staatsgegner“ und „Außenseiter“ gewesen, meint Kurator Eckart Gillen mit Blick auf „Wessis“ und „Ossis“. Die hier nicht gleichgewichtig, aber gleichwertig aufscheinen und untereinander auch nicht immer grün waren. Jörg Immendorff, in seinem großformatigen „Café Deutschland“ traut vereint mit Dissident Penck, geißelt an anderer Stelle Wolf Vostells Lippenstift-Bomber als „kolonialistischen Zynismus“. Vostell findet sich wieder in einem starken Raum mit blendendem „Auschwitz-Scheinwerfer 568“ in der Generation, die ihre Väter verachtete, bei Gerhard Richter und Georg Baselitz, der seinen Helden-Hass zum Skandal aufgeilte.

Bei der Jubiläumsschau mit dem schiefen Zeitfenster (sie lässt die letzten 20 Jahre samt Neo Rauch aus) ist leichtes Augenflimmern unablässig. Sinnstiftend ist sie allemal. Auch die Nase erfährt, dass Schokoladenseiten nicht immer Gutes verheißen. Dieter Roths 725 Kilo schwerer „Schokoladenlöwenturm“ (1969) lässt Geschichte riechen. Ziemlich intensiv.

Andreas Radlmaier

Germanisches Nationalmuseum (Kartäusergasse 1): bis 6. September, Di-So 10-18 Uhr, Mi bis 21 Uhr. Eröffnung: heute, 19 Uhr. Begleitbuch: 49,95 Euro.

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