Bei diesem Mann landen die Glatteis-Opfer
Krankenpfleger Jochen Graeser ist der Gipser im Nürnberger Südklinikum. In seinen 23 Jahren in der Notaufnahme hat er tausende ängstliche Patienten mit Brüchen und Verletzungen versorgt
NÜRNBERG Glatteis-Alarm: Kaum gefriert die Nässe auf den Straßen, ist das Gipszimmer im Nürnberger Klinikum Süd voll! „Es ist ein Phänomen: Sobald die Menschen hören, dass es draußen glatt ist, müssen sie das wohl testen und stürzen prompt“, sagt Peter Weis, Stationsleiter der Notaufnahme.
Gebrochene Knochen und gerissene Bänder bringen Jochen Graeser auf Trab: Der 54-Jährige ist Krankenpfleger mit der Zusatz-Qualifikation Gipser. In 23 Jahren in der Notaufnahme am Klinikum Süd hat er tausende Patienten mit Verletzungen und Brüchen versorgt. „Aber beim 1000. Gips habe ich das Zählen aufgehört“, scherzt Graeser.
Im Gipsraum hat er schon Jubel und Angstschreie erlebt. Auch Tränen kullerten – und zwar nicht nur beim Verband-Anlegen, sondern auch beim Entfernen: Denn der Spezialschneider ist laut wie eine Säge, aber völlig ungefährlich. „Sobald die Gipssäge auf weichen Untergrund stößt, hört sie automatisch auf“, erklärt Graeser – und führt’s gleich am eigenen Unterarm vor.
Gipse in Grün, Orange oder Blau, mit Indianern oder Fußbällen
Am häufigsten gebrochen ist das Handgelenk. „Damit versucht man, sich beim Fallen abzustützen“, so der Gipser. In der Glatteis-Saison meistert er fünf und mehr Gips-Verbände täglich. Pro Jahr füllen gut 5000 Behandlungen, einschließlich Röntgen oder Verbandswechsel, das Gipszimmer. Kein Wunder, dass Graeser nicht als einziger die Lizenz zum Gipsen hat: „Jeder Krankenpfleger, der möchte, darf die Qualifikation erwerben“, erklärt Stationsleiter Weis. Bis die Technik sitzt, braucht es viel Erfahrung. „In Einzelfällen sägt der Chef wieder auf und ein neuer Gips kommt ran."
Gipsen sieht einfach aus, bis man selbst ran darf, meint auch Gips-Neuling Gloria: „Wenn die alten Hasen das machen, geht es Ruck-Zuck und passt.“ Doch das Anlegen ist Maßarbeit: Erst kommt der Stülpe-Verband, darauf die Watte-Polsterung, Krepp-Papier und dann erst der Gips. „Faltenfrei und straff! Alles muss so sitzen, dass er stützt, ohne Nerven und Blutbahnen einzuengen“, so Graeser.
Noch vor 20 Jahren hat man öfter gegipst: Heute kommen oft Schienen zum Einsatz, etwa bei Außenband-Rissen und Knieverletzungen. Oder Chirurgen fixieren gebrochene Knochen mit Nägeln. „Vor allem großflächige wie der Beckenbein-Gips bei Babys, der vom Fuß bis über die Hüfte reicht, gibt es kaum noch“, so der Spezialist. Eine Extra-Herausforderung sei das so genannte Gipsbett: „Der Patient liegt mehrere Wochen darin. Da darf nichts scheuern oder drücken. Aber man muss diese Schale in Bauchlage anpassen“, seufzt Graeser.
Dafür ist die Gipswelt heute farbenfroh: Grün, Orange oder Blau, mit Indianern oder Fußbällen. „Wir haben viele Muster auf Vorrat“, erklärt Graeser. Je nach Bruch und benötigtem Material kann der Patient wählen. Genau genommen bestehen heute viele „Gips“-Verbände gar nicht mehr aus Gips, sondern aus Kunststoff. Cast – englisch für Gips, nennen das Experten. „Es gibt diverse Materialien, von flexibel bis starr“, so Graeser.
Der 54-Jährige ist längst nicht nur Meister im vorsichtigen Verarzten gebrochener Knochen, sondern auch Tröster mit chronisch guter Laune. „Ein Klinik-Aufenthalt ist immer eine Ausnahmesituation“, weiß Graeser. Mit Geschichten und Teddybären-Verband entlockt er selbst furchtsamen Patienten ein Lächeln. Wenn Jochen Graeser hingegen durch die Stadt läuft, achtet er nicht besonders auf Bruch-Gefahren – außer bei Glatteis. „Nur Menschen mit Gips – die fallen mir sofort auf.“
S. Schaller
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