Behörden stümpern: Daten-Debakel in der JHV Straubing

Weil Straubinger Behörden stümpern, erhält ein Häftling Post mit Namen, Adressen und Nummern von mehr als 1.000 Personen. JVA-Bedienstete sind sauer – und Verantwortliche schwer zu finden.
Christoph Urban, ses |
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Der Eingang zur Justizvollzugsanstalt Straubing. Sonst zahlen Kriminelle dafür, an Big Data zu gelangen - hier verschicken Behörden sie selbst.
Der Eingang zur Justizvollzugsanstalt Straubing. Sonst zahlen Kriminelle dafür, an Big Data zu gelangen - hier verschicken Behörden sie selbst. © Armin Weigel/dpa

Straubing - Ein Straubinger Gefangener erhält Post vom Gericht: etwa 50 Seiten voller Namen, Adressen und Telefonnummern, auch von JVA-Bediensteten. Grund für die irrtümliche Weitergabe ist eine Pannenserie zwischen Justizvollzugsanstalt (JVA), Gericht und Gesundheitsamt.

Datenschutzbeauftragter Thomas Petri: "Es ist mir schleierhaft"

Und während vom Daten-Leck Betroffene Überwachungskameras an ihren Häusern installieren, sitzt Bayerns oberster Datenschutzbeauftragter Thomas Petri an der Aufarbeitung des Debakels: "Wie man bei so sensiblen Daten das Hirn ausschalten kann, ist mir schleierhaft", sagt er.

Seit die Daten-Panne am 27. Oktober bekannt wurde, hat die AZ mit mehreren JVA-Bediensteten gesprochen und sich ihre anonymen Schilderungen von Gesundheitsamt, JVA-Leitung und Landgericht bestätigen lassen. Demnach ist das Daten-Leck wesentlich brisanter als bisher bekannt – und lässt daran zweifeln, wie sorgsam öffentliche Stellen mit sensiblen Daten umgehen.

Über 700 sensible Daten verschickt

Der Häftling erhielt persönliche Daten von rund 700 Mitgefangenen und rund 90 JVA-Bediensteten. Damit nicht genug, wurden die Daten von 385 JVA-fremden Personen vom Gesundheitsamt an die JVA, von dort weiter an das zuständige Gericht und schließlich zum Häftling geschickt, ohne dass es jemandem auffiel.

Nun sind JVA-Bedienstete und deren Angehörige sauer. Darüber, dass ihre privaten Telefonnummern und Adressen mutmaßlich unter Gefangenen weitergegeben wurden. Dass sie ab jetzt wohl jedes Auto misstrauisch machen wird, das etwas zu langsam an ihrem Haus vorbeifährt. Und darüber, dass die Sache aus ihrer Sicht heruntergespielt wird.

"Für die Beschäftigten ist das eine Katastrophe"

Datenschützer Petri nennt die Weitergabe der JVA-Daten "für die Beschäftigten eine Katastrophe" und "brandgefährlich". Dass das Gesundheitsamt auch die Daten von 385 Unbeteiligten irrtümlich weitergegeben hat, sei ein "sehr, sehr schwerwiegender Verstoß", sagt er der AZ.

Das Gericht, das dem Häftling die Liste geschickt hat, falle zwar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, sagt Petri. Aber er werde dem bayerischen Justizministerium nahelegen, alle Gerichte schulen zu lassen, "wie man mit Excel umgeht". Das Justizministerium rät den Beschäftigten nun zu erhöhter Aufmerksamkeit. Falle ihnen etwas Verdächtiges auf, sollten sie umgehend Kontakt mit der Polizei aufnehmen, teilte eine Sprecherin mit.

Es begann im April 2021...

Was war passiert?
An einem Samstag im April 2021 zeigt ein Insasse der JVA schwere Covid-Symptome, wenig später noch einer, dann noch einer. Ein Notfallplan greift, Gefangene werden isoliert, zehn Tage später rückt ein mobiles Team des Gesundheitsamts an zum Reihentest. Die Ergebnisse der Tests schickt das Amt in einer Excel-Liste an den JVA-Pandemiebeauftragten.

Der sieht: Die Liste enthält nicht nur Befunde aus der JVA. Sie enthält, wie das Gesundheitsamt auf Anfrage bestätigt, Ergebnisse von Reihentests in Straubinger Altenheimen, Flüchtlingsunterkünften und Firmen, die mobile Teams im März und April gemacht hatten – Daten von 385 Personen.

Fehler entdeckt, aber nicht behoben

Als der Pandemiebeauftragte das Amt darauf hinweist, schickt es eine neue Liste, dieses Mal nur mit JVA-Daten. Dann, sollte man meinen, hätte die erste Liste vernichtet werden können. Doch eineinhalb Jahre später, in diesem Oktober, wird die damals schon irrtümlich übermittelte Liste noch einmal irrtümlich weitergegeben, dieses Mal per Post an einen Häftling.

Der Mann, der in Straubing lebenslänglich einsitzen soll, beklagt sich nämlich vor der Strafvollstreckungskammer am Amtsgericht Straubing über die Quarantäne vom Frühjahr 2021. Er will nicht glauben, dass er positiv getestet worden ist, will sein Ergebnis sehen.

Gleiche Liste, nur mit 402 Leerzeilen

Auf Anfrage des Gerichts kramt darum ein JVA-Bediensteter die Excel-Datei heraus, zieht den Befund des Häftlings ganz nach oben, benennt die Datei passend um und schickt sie weiter an den Vollzugsinspektor, dieser weiter zum Abteilungsleiter und der zur Anstaltsleitung.

Was niemand bemerkt: Nach den Häftlingsdaten folgen zwar 402 Leerzeilen. Weiter unten stehen aber nach wie vor Daten der ursprünglichen Liste: rund 700 Gefangene, 90 Bedienstete und 385 Externe. "Ich habe die Liste sogar noch aufgemacht und den richtigen Namen gesehen", sagt Anstaltsleiter Hans Jürgen Amannsberger der AZ. Aber wer scrollt schon auf Verdacht nach unten?

50 Blatt Papier aus dem Drucker, aber niemand wird stutzig

Amannsberger googelt später: Theoretisch kann man in leeren Excel-Tabellen 1.048.576 Zeilen lang scrollen, ohne dass unten noch etwas kommt. In diesem Fall kommt unten noch etwas. So geht die Excel-Datei zum Gericht, wo der zuständige Richter sie ausdrucken und dem Häftling schicken lässt. Freilich kommt aus dem Drucker kein Brief mit einer Zeile Corona-Befund – sondern etwa 50 Blatt, vorne und hinten bedruckt.

Big Data braucht Big Papier. Wurde bei so vielen Blatt Papier niemand stutzig? Hatte der Richter die Excel-Datei überhaupt geöffnet, bevor er sie ausdrucken ließ? Das bleibt in der Stellungnahme des Landgerichts unbeantwortet.

Gerichtspost ist unantastbar

So erhält der Häftling Post, 50 Blatt. Und er geht damit zu einem JVA-Bediensteten. "Der Kollege", sagt JVA-Chef Amannsberger, "konnte nicht eingreifen, weil es sich um Gerichtspost handelte." Also nimmt der Häftling seinen Papierstoß wieder mit. Zwei Tage später teilt ein Mitgefangener mit, er habe die Liste erhalten, zerrissen und weggeworfen. Erst jetzt dürfen Bedienstete sie aus dem Papierkorb heben. Wie viele Gefangene sie einsehen konnten, weiß niemand.

Das Gesundheitsamt spricht in einer E-Mail an die AZ zwar von einem "Fehler" des Amts, die Liste im April 2021 an die JVA zu schicken – und nennt die Weitergabe der JVA-fremden Daten selbst "unrechtmäßig". "Weitere Datenpannen" allerdings "liegen nicht im Verantwortungsbereich des Gesundheitsamtes", heißt es. JVA-Leiter Amannsberger bemüht sich um Aufklärung, spricht von einem "bisher zuverlässigen Kollegen", dem ein Fehler unterlaufen sei. Zu Konsequenzen für jene, die an der Pannenserie beteiligt waren, äußern sich JVA, Landgericht und Gesundheitsamt nicht.

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Häftlinge erstatten Anzeige

Rund zehn Häftlinge haben indes wegen der Datenpanne Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft Regensburg habe ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung von Privatgeheimnissen gegen Unbekannt aufgenommen, sagte ein Sprecher gestern.

Ob auch Anzeigen von JVA-Angestellten vorliegen, konnte er zunächst nicht sagen. Eine betroffene Familie hat derweil fast 500 Euro für Überwachungskameras ausgegeben. Im Bett vor dem Schlafengehen wischen sie noch einmal mit dem Handy durch alle Kameras an Eingang, Hintereingang, Terrasse, zur Sicherheit. Ein Häftling habe gesagt, die Daten seien längst im Netz. Wer weiß schon, ob es stimmt?

"Man schaut sich die Leute auf der Straße jetzt ganz anders an", sagt die Frau, deren Mann auf der Liste stand. Davon erfahren habe die Familie per Anruf eines Kollegen, nicht durch Post vom Anstaltsleiter. "Das war ein Schlag ins Gesicht", sagt sie. "So etwas muss sofort weitergegeben werden – nicht erst dann, wenn die Zeitung darüber berichtet."

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  • Der wahre tscharlie am 16.12.2022 16:36 Uhr / Bewertung:

    Eine Posse hoch 10. Nicht mal ein Drehbuch-Autor kann sich solch eine Geschichte ausdenken. grinsen

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