Bayern im Wandel: Von der Idylle zur Großbaustelle

Wie haben sich Städte und Landschaft in Bayern in den vergangenen 75 Jahren entwickelt? Ein neues Magazin geht der Frage nach - und auch AZ-Reporterlegende Karl Stankiewitz.
Karl Stankiewitz |
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"Regensburg und Umgebung aus der Vogelschau" von Eugen Felle (1913). Der Allgäuer Maler Eugen Felle schuf detailgetreue und realistische Darstellungen bayerischer Städte und Landschaften aus der "Vogelschau", die um die Jahrhundertwende als Bildpostkarten großen Absatz fanden. Im Vergleich mit einem Blick von oben heute zeigt sich, wie sich Bayern seit Ende des Zweiten Weltkriegs vom Agrar- zum Industrie- und Dienstleistungsstandort gewandelt und dabei sein Landschaftsbild massiv verändert hat, erklärt das Haus der Bayerischen Geschichte zu dieser Abbildung.
"Regensburg und Umgebung aus der Vogelschau" von Eugen Felle (1913). Der Allgäuer Maler Eugen Felle schuf detailgetreue und realistische Darstellungen bayerischer Städte und Landschaften aus der "Vogelschau", die um die Jahrhundertwende als Bildpostkarten großen Absatz fanden. Im Vergleich mit einem Blick von oben heute zeigt sich, wie sich Bayern seit Ende des Zweiten Weltkriegs vom Agrar- zum Industrie- und Dienstleistungsstandort gewandelt und dabei sein Landschaftsbild massiv verändert hat, erklärt das Haus der Bayerischen Geschichte zu dieser Abbildung. © Abbildungen: Haus der Bayerischen Geschichte

Bayern - Wenn Richard Loibl von München aus seine alte Heimat im neuen Niederbayern ansteuert, dann gerät er meist schon auf der Isental-Autobahn in Wehmut und, weiter dann auf Landstraßen, ins Grübeln. Vertraute Landschaften - zerschnitten, ausgeräumt oder zugebaut. Im Umkreis kleiner Städte "scheinbar unendliche Gewerbesiedlungen", Großmärkte, Großtankstellen und Großrastplätze, verschlungene Ausfahrten, Logistikzentren "gefühlt größer als die Nachbarstädte Landau oder Dingolfing". Nahe Landshut wird die Atomfestung von Ohu wohl noch lange das Isartal beherrschen, wenn "Isar 2" zum Jahresende als letztes deutsches Kernkraftwerk abgeschaltet sein wird.

Der Museumsleiter fragt sich bei seinen Fahrten: "Hat es das gebraucht?" Im elterlichen Hengersberg, dem ältesten Markt Altbayerns, findet der Metzgersohn Loibl von einst sechs Wirtshäusern nur noch eines offen. Bis hinauf in den Bayerischen und den Oberpfälzer Wald begleitet ihn der "glitzernde Tatzelwurm" der Lieferkette. Ähnlich verändert sieht er die ländliche Struktur in weiten Landstrichen Oberbayerns, Frankens und Schwabens.

"Hat es das gebraucht?"

Bei solchen Fahrten fragt sich der Historiker, der das Haus der Bayerischen Geschichte in Augsburg und dessen Museum in Regensburg leitet: "Hat es das gebraucht?" Deshalb versammelte Loibl 15 ebenso landeskundige Kolleginnen und Kollegen, damit diese "75 Jahre Großprojekte unter die Lupe nehmen".

Denn der Wandel Bayerns in der Fläche sei kaum noch wissenschaftlich untersucht. Aus dem Brainstorming entstand zunächst ein Magazin mit dem schönen Titel "Ois anders", welches wiederum den Unterbau bilden soll für eine diesem Thema gewidmete Landesausstellung 2024 in Regensburg. Heuer soll dort noch das "Wirtshaussterben" dokumentiert werden.

Das "Ois anders" Magazin
Das "Ois anders" Magazin © Abbildungen: Haus der Bayerischen Geschichte

Bauen um jeden Preis - ob das der richtige Weg ist, bezweifelt nicht nur Egon Johannes Greipl, der langjährige Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege. In seinem Beitrag beklagt er die Folgen eines Landesentwicklungsplans, der seit 1976 zwar mehrmals novelliert wurde, nach wie vor aber voller Mängel sei.

Für unverzichtbar hielten "ausgewiesene Raumplaner" ein Konzept, das die (Kultur-)Landschaft endlich fokussiere, den ungebremsten Flächenverbrauch drastisch reduziere und den Naturschutz nicht konzentriere auf Nationalparks und Reservate oder die spektakuläre Wiederansiedlung einiger Arten. Im neuen, der Pandemie angepassten Konzept des übergreifenden Bayerischen Bauforums fand Greipl auf sieben Seiten ganze neun Zeilen zu Umweltthemen.

Verödete Dörfer werden zu bloßen Schlafstätten

"Metropolregionen" mit neuen, stolzen Dominanten ("brutalistische Betonburgen, Krankenhäuser-Schulen und Stadthallen") machten das einst bäuerliche Land zum bloßen "Umland", kritisiert der Historiker Thomas Götz von der Universität Regensburg eine landesweite, fragwürdig gesteuerte Entwicklung.

Verödete Dörfer werden zu bloßen Schlafstätten. An den Rändern vieler Gemeinden entstehen Großwohnsiedlungen, gern im Toskana-Stil (oder was man dafür hält).

Natürlich haben die - oft vom Freistaat ganz oder zum Teil finanzierten - Großprojekte auch Vorteile gebracht. Museumsdirektor Loibl erwähnt seine jungen Landsleute, die nicht mehr zum Studium nach München umziehen müssen, weil es längst auch in Regensburg, Passau und Deggendorf Hochschulen gibt.

Die "Waldler" müssen nicht mehr weit pendeln und im Winter "stempeln gehen", weil sie im aufgeblühten Tourismus arbeiten können. Ähnlich segensreich erwies sich das von der Staatsregierung forcierte "Fränkische Seenland".

Was die Hauptstadt des im Wandel begriffenen Landes betrifft, so verweist Michael Stephan, der langjährige Direktor des Münchner Stadtarchivs, auf die wunderbare, vorzeitige Modernisierung infolge der Olympischen Spiele 1972 und das so geschaffene Freizeitparadies. Stephan stellt aber auch fest: "Manche Nachnutzung ist nicht geglückt." Wie Großprojekte ganze Regionen verändert haben, wird in dem Magazin an Beispielen gezeigt und kritisiert, auch durch Luftaufnahmen. Da geht es beispielsweise um die Agrar- und Energiewende im Gäuboden, um Eingriffe in eine Wildflusslandschaft oder um "Regensburger Umbrüche". Größere Proteste erntete der Rhein-Main-Donau-Kanal, den ein Bundesminister bös geschmäht hatte, und der nach Franz Josef Strauß benannte Großflughafen im Moor. Strauß wollte seinen Freistaat zum "modernsten Land Europas" pushen. Nachfolger Edmund Stoiber prägte die viel belächelte Losung "Laptop und Lederhose", die der aktuelle Landesherr Söder in "Leberkäs und Laser" verwandelte.

Olympiaturm war höchstes Bauwerk der Bundesrepublik

Kritik und Klagen dieser Art sind keineswegs neu. Nicht vom Auto aus, sondern vom Olympiaturm herunter hatte sich AZ-Reporter Karl Stankiewitz ein Bild gemacht von einigen der Großprojekte, die in den frühen 1970er-Jahren das südliche Bayern überzogen. Seine Eindrücke - gesammelt für das 2004 erschienene Buch "Babylon in Bayern. Wie ein Agrarland der modernste Staat Europas werden sollte" - skizzierte Karl Stankiewitz wie folgende gekürzte Fassung zeigt:

Der Olympiaturm, der einmal das höchste Bauwerk der Bundesrepublik war, ist nur noch ein Aussichtsturm wie viele andere. Doch immer noch bietet sich vom fünfstöckigen, teilweise rotierenden Aussichtskorb aus nach allen vier Himmelsrichtungen ein Rundblick, den man - mit einem gewissen Hintersinn - fantastisch nennen könnte. Zumal an Tagen, wenn der Föhn die Alpenkulisse zum Greifen nahe vor die Millionenstadt zaubert und die Moränenlandschaft dazwischen noch das satte Grün ihrer einstigen bäuerlichen Beschaffenheit erkennen lässt. Nicht nur Gewachsenes und Schönes ist da zu sehen, sondern auch viel Falsches und Hässliches.

Väterchen Timofei Prokorow arbeitet in seinem Garten auf dem Olympia-Gelände. Im Hintergrund der Fernsehturm. Welche Auswirkungen die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1972 auf die Stadt München hatte, wird auch in dem Magazin beleuchtet.
Väterchen Timofei Prokorow arbeitet in seinem Garten auf dem Olympia-Gelände. Im Hintergrund der Fernsehturm. Welche Auswirkungen die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1972 auf die Stadt München hatte, wird auch in dem Magazin beleuchtet. © Abbildungen: Haus der Bayerischen Geschichte

 

Fantasien, Flops und Fehlkalkulationen - konzentriert in der südlichen Landeshälfte. Hier umgreift das Panorama die komplette Alpenrandlandschaft. Ganz rechts die 2962 Meter hohe Zugspitze mit ihrem total zugebauten Gipfelplatt, ganz links Bayerns zweithöchster Berg, der Watzmann, auf dessen berüchtigte Ostwand gescheiterte Olympiaplaner einstmals die fünf Ringe per Laser projizieren wollten. Inmitten dieser prächtigen Gebirgskulisse, über die Münchner St. Anna-Kirche spitzend, der Wendelstein, dessen maßvolle "Erschließung" von beiden Seiten her immerhin noch alpine Natur weitgehend verschont hat.

Mächtige Mahnmale der Technik finden sich im Norden Münchens

Am Nordrand der Stadt sehen wir aus olympischer Höhe mächtige Mahnmale der Technik, alle auch dort direkt an der Isar aufgerichtet: Neben der Autobahnspinne versteckt sich zunächst ein Max-Planck-Institut, wo hochgerüstete Physiker seit Jahrzehnten vergeblich versuchen, durch Kernfusion eine "künstliche Sonne" zur Lösung aller Energieprobleme zu schaffen. Das alt und nutzlos gewordene "Atomei" bei der blitzsauberen Forschungsstadt Garching hat einen großen Bruder bekommen, den einzigen Neutronen-Reaktor der Welt, der mit waffenfähigem Uran betrieben wird und daher höchst umstritten ist.

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Flussaufwärts und nicht minder umstritten strahlt der Atommeiler von Ohu. Blickt man weiter in Richtung Straubing, ins fruchtbarste Ackerland Bayerns hinein, dann peilt die Pupille den Flughafen Franz-Josef-Strauß an, in dessen Vorland wieder 1500 Hektar für eine gigantische Erweiterung ausgewiesen wurden.

Westlich davon tauchen am Horizont die Ölraffinerien von Ingolstadt auf. Ihre Feuerschrift leuchtet abends wie das Menetekel der Stadt Babylon: "Gezählt, gewogen, zerteilt." Gezählt hat es der Bund Naturschutz noch im April 2003: Tag für Tag werden Kulturlandschaften in der Größe von 40 Fußballfeldern "verbraucht", 28 Hektar. Ende des Wachstums? Noch lange nicht. 2020 war von 16 Fußballfeldern am Tag die Rede.

Nördlichere Landesteile sind eher zurückgeblieben. Ausgenommen die "Jahrhundertbauwerke", etwa der Rhein-Main-Donau-Kanal oder Wackersdorf, das wahnwitzigste aller bayerischen Großprojekte. Aber so weit reicht das Auge auch von der 190 Meter hohen Aussichtsplattform des bayerischen Turms zu Babel denn doch nicht.


"Ois anders" ist beim Haus der Bayerischen Geschichte für 10 Euro zu beziehen (www.hdbg.eu/shop), "Babylon in Bayern" von Karl Stankiewitz bei der edition buntehunde in Regensburg zum Preis von 4,99 Euro.

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  • Bongo am 21.02.2022 11:44 Uhr / Bewertung:

    Echt lustig. Ein Metzgersohn aus Niederbayern, der offensichtlich dem Land selber den Rücken zugekehrt hat und in die Großstadt gezogen ist, beklagt die Veränderungen auf dem Lande. Er hätte doch in Hergersberg bleiben und ein Wirtshaus betreiben können. Dann hätten wenigstens noch zwei offen. Übrigens: Hat sich in den Großstädten in denletzten Jahrzehnten nicht auch einiges verändert?

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