AZ-Report: „Wir werden Ursula nie vergessen“
Seit Jahrzehnten fühlen die Echinger mit den Eltern mit. Viele glauben an die Schuld von Werner M. Doch auch nach dem Urteil wird das Verbrechen ein Teil des Dorfes bleiben
In dem kleinen Geschäft, wo es Zeitungen und frische Brezn gibt, im „Dorfladen“, wird besprochen, was das 1700-Einwohner-Örtchen am Ammersee beschäftigt, zwischen Theke und Kasse, oder am „Frauentisch“ in der Ecke. Dort sitzen am frühen Vormittag vier ältere Damen und für sie gibt es heute nur ein Thema: Ursula Herrmann.
Im Radio haben sie von dem Urteil gehört: lebenslang für Werner M. Für das Gericht ist damit ein rätselhafter, spektakulärer und bedrückender Kriminalfall fast 30 Jahre nach der Tat gelöst. „Es muss endlich eine Ruhe sein – aber ich glaub’, das geht weiter“, sagt eine Dame und schüttelt den Kopf. Dann erinnern sich die Frauen zurück an das Jahr 1981. Am 15. September war die kleine Ursula, das „hübsche Mädchen“, verschwunden. Erst fast drei Wochen später, am 4. Oktober, fand man die Kinderleiche in der Holzkiste in einem Loch im „Weingarten“, wie das Waldstück dort heißt.
Noch immer ist das für viele hier ein Ort des Grauens: „Früher haben wir dort Himbeeren gesammelt, aber seitdem bin ich nie wieder hin“, erzählt eine Frau. Ihre Tochter auch nicht. Die war damals so alt wie Ursula, die beiden Mädchen waren sogar befreundet. Beide seien sie damals immer mit dem Radl nach Schondorf gefahren, zum Turnen – bis zum 15. September, dem Tag an dem Ursula verschwand, danach nicht mehr. „Ich hab’ damals so eine Angst gehabt um mein Kind“, sagt die Frau und schaudert sich noch immer ein wenig.
Die Angst von damals ist heute einem Gefühl des Unbehagens gewichen. Weil fast jeder Echinger in den Sog der so lange erfolglosen Suche nach dem Täter geraten war. „Jeden hat das belastet, weil plötzlich jeder unter Verdacht stand“, erklärt eine Kundin im Dorfladen. Als im Mai 2007 die Staatsanwaltschaft Augsburg den Fall neu aufrollte und Werner M. im vergangenen Jahr den Prozess machte, kamen die Ermittler wieder nach Eching. „Dann haben sie alles wieder aufgebohrt“, sagt eine Frau.
Bei Michael und Anneluise Herrmann, den Eltern des Mädchens, konnte die Wunde nie verheilen. Der Verlust der geliebten Tochter hat sie „zu gebrochenen Menschen“ gemacht, erzählt ein Nachbar des inzwischen über 70 Jahre alten Paares. „Der Werner M. gehört eingesperrt“, meint er zum Urteil. Dass Ursulas Bruder Michael noch immer nicht ganz sicher ist, dass wirklich Werner M. seine Schwester getötet hat, kann der Mann nicht verstehen. „Ich glaube, es ist nicht gut, das öffentlich zu äußern.“
Mitgefühl mit den Eltern von Ursula Herrmann hat man in Eching aber immer gezeigt. „Die Frau ist gezeichnet für ihr Leben, man kann die Eltern nur bedauern“, erzählt Hubert Mahler, der von 1984 bis 1996 der Bürgermeister von Eching war.
Vater Michael Herrmann hatte Jahrzehnte den Kirchenchor im Ort geleitet, der Glaube habe seine Trauer mildern können. Anneluise Herrmann leidet bis heute unter der psychischen Belastung durch den Tod der Tochter – wie auch das Gericht feststellte.
Am Ende musste das Gericht ein Urteil in einem Indizienprozess ohne Geständnis des Angeklagten sprechen. „Ich habe gehofft, dass es eine eindeutige Beweislage mit einem klaren Urteil gibt“, sagt Ex-Bürgermeister Mahler. „Dann könnte Eching endlich wieder an etwas anderes denken.“
Oben am Kirchweg ist der Friedhof von Eching, hier liegt Ursula Herrmann begraben. Fast jeden Tag sind ihre Eltern in den über 28 Jahren da gewesen. Gesprochen haben sie mit kaum jemandem über die Tat. Meistens standen sie nur da und schwiegen. An diesem Frühlingstag blühen die Osterglocken auf dem Grab. Kies knirscht unter den Füßen, Vögel singen, Kinder kreischen in der Ferne.
Zwei Frauen zupfen Unkraut aus den benachbarten Gräbern. „Die Ursula werden wir in Eching nie vergessen“, sagt die eine und auch ihre Freundin meint: „Das wird immer im Dorf bleiben.“ Daran konnte auch das Gerichtsurteil nichts ändern.
Reinhard Keck
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